Am Dienstagabend eröffneten nigerianische Sicherheitskräfte bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt in Lekki das Feuer und töteten mehrere Menschen. Es ist eine weitere Eskalation der Unruhen, die seit mehr als zwei Wochen das ganze Land erfasst haben. Der Radiomoderator Nicholas Anyamene gehört zu denen, die in Nigeria von Anfang an auf die Straße gingen. Er war dabei, als das Militär an der Mautstelle in Lekki auf die Demonstranten schoss.
SPIEGEL: Seit mehreren Wochen gehen Zehntausende Menschen in Lagos und in weiten Teilen Nigerias auf die Straße. Warum?
Nicholas Anyamene: Es fing an mit der Special Anti-Robbery Squad, Sars, der Polizei. Wir hatten genug. Die Sars-Einheit war dafür bekannt, Unschuldige festzunehmen, Geld zu erpressen und unbewaffnete Bürger zu töten. Die Männer dieser Einheit sind zu den Räubern geworden, vor denen sie uns eigentlich beschützen sollten. Seit 2008 kennen wir die Berichte darüber, aber ein paar sehr brutale Videos vom Anfang dieses Monats aus Delta State brachten das Fass zum Überlaufen. Es sind Videos, die niemand sehen müssen sollte. Diese Männer bringen Menschen um, weil es ihnen Spaß macht. Die Proteste gingen am 5. Oktober los und ich bin seit dem ersten Tag dabei.
SPIEGEL: Hatten sie je Kontakt mit der Einheit?
Anyamene: Ich selber wurde schon von Sars festgenommen. Vor zwei Jahren haben sie mich und Freunde festgenommen. Um acht Uhr abends. Wir wollten Champions League gucken. Sie fragen nicht nach IDs, sie stellten keine Fragen. Sie schlugen uns, stießen uns ins Auto. Man durfte noch nicht einmal seine Verwandten anrufen. Am nächsten Morgen durften wir einen Anruf machen. Und so kamen wir dann raus. Aber natürlich mussten wir zahlen. 50.000 Naira, rund 110 Euro, pro Person. Für nichts. Wir haben nichts gemacht. Wir wurden fast die ganze Nacht geschlagen. Ein anderes Mal musste ich einen Freund aus ihrem Gewahrsam freikaufen. Manchmal halten sie Leute an und nehmen ihnen ihre Telefone ab. Sie haben schon einmal jemanden erschossen, weil er sein Telefon nicht hergeben wollte.
SPIEGEL: Nun eskaliert die Situation. Was ist passiert?
Anyamene: Am Dienstag haben Kriminelle als Rache für einen Polizeimord eine Polizeistation angezündet. Der Gouverneur von Lagos verhängte daraufhin eine Ausgangssperre, die am selben Tag um 16 Uhr begann. Zu diesem Zeitpunkt demonstrierten Hunderte #EndSars-Demonstranten friedlich vor der Mautstation in Lekki, einer Vorstadt der Metropole Lagos. Auch ich. Wir demonstrierten dort seit vielen Tagen. Viele blieben auch nach 16 Uhr.
SPIEGEL: Wie reagierte der Staat?
Anyamene: Es gibt Augenzeugenberichte, wie von Angestellten der Mautstelle Kameras abmontiert wurden. Dann wurde der Strom abgestellt und es wurde dunkel. Gegen 19 Uhr übernahm das Militär die Mautstelle. Wir antworteten, riefen, dass sie uns nicht einschüchtern werden, dass sie uns nicht vertreiben werden. Es wurde die Nationalhymne gesungen. Dann eskalierte die Lage. Es fielen vereinzelte Schüsse. Sie wollten uns Angst machen, uns verscheuchen. Aber das funktionierte nicht, und sie begannen richtig zu schießen. Es gab mindestens zehn Tote. Ich allein sah, wie neben mir fünf Leute niedergestreckt wurden. Überall war Blut. Die nigerianischen Fahnen, die die Menschen trugen, waren plötzlich rot von Blut. Es brach Panik aus. Wir rannten um unser Leben.
SPIEGEL: Hat sich die Lage seitdem beruhigt?
Anyamene: Im Gegenteil. Am Mittwoch brach totales Chaos aus. Rauch über der Stadt. Ein Busterminal brannte, eine Fernsehstation, das Haus der Mutter des Gouverneurs und viele andere. Das Morden vom Dienstag zog eine Welle der Gewalt nach sich. Autos wurden zerstört, Vandalismus brach aus.
SPIEGEL: Das ist kontraproduktiv.
Anyamene: Die Proteste werden infiltriert von Regierungsschergen, die Gewalt verbreiten, um das Vorgehen der Regierung zu rechtfertigen. Wir haben gesehen, wie sie aus Regierungswagen aussteigen. Es gibt Beweise, Videos, wie sie Gangster benutzen, um Gewalt zu provozieren. So wollen sie die Proteste beenden. Sie wollen, dass es aussieht wie Krieg.
SPIEGEL: Die Gewalt geht nicht von der #EndSars-Bewegung aus?
Anyamene: Das hat nichts mit unseren Protesten zu tun. Das sind Kriminelle, die von der Regierung instrumentalisiert werden oder einfach unsere Proteste gekapert haben und die Situation nutzen, um zu plündern und rauben.
SPIEGEL: Vor knapp zwei Wochen verkündete die Regierung die Auflösung der Sars-Einheit. Die Proteste gehen weiter. Warum?
Anyamene: Das ist Nigeria. Dinge funktionieren hier nicht so, wie sie funktionieren sollten. Die Regierung hat schon oft etwas versprochen. Und diesmal haben wir beschlossen, nicht aufzuhören, bis wir tatsächliche Ergebnisse sehen. Sie haben die Sars-Männer einfach in eine andere Einheit versetzt. Man kann die Regierung nicht beim Wort nehmen. Wenn wir aufhören, verändert sich nichts. Keiner der Verbrecher von der Sars ist angeklagt worden.
SPIEGEL: Es geht um mehr als nur um Polizeigewalt.
Anyamene: Es geht nicht um Zusagen. Es geht darum, dass sie handeln. Es geht um gute Regierungsführung. Um absurde Gehälter in der Regierung, um Korruption, Arbeitslosigkeit, Inflation. Die Jugend des Landes hat zu lange stillgehalten. Das Land wird immer noch kontrolliert von den Männern aus der Zeit der Militärdiktatur. Sie haben nur ihre Uniformen abgelegt. Aber wir sind nicht mehr nur Social-Media-Krieger, wir sind nicht nur die tippende Generation. Wir, die Jugend, sind jetzt die Stimme des Volkes. Wir haben eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Wir sind die Mehrheit. Wenn wir sagen: «Es ist Zeit», dann ist es Zeit.
SPIEGEL: Wie wird es nun weitergehen?
Anyamene: Es gibt verschiedene Meinungen. Ich denke, wir sollten uns an die Ausgangssperre halten. Und sobald die aufgehoben ist, gehen wir zurück auf die Straße. Die Regierung will, dass die Lage eskaliert. Die Regierung hat Angst. Wenn sie nachgibt, wird es mehr Forderungen geben. Gute Straßen, Elektrizität. Sozialleistungen, die wir nicht haben, während unsere Regierungsmitglieder horrende Gehälter verdienen. Wir sehen keine Zukunft für uns.
Source: spiegel.de
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