Wenige Stunden bevor Jole Santelli starb, gab sie ihr letztes Interview. Der Termin kam kurzfristig zustande. Morgens um 9.55 Uhr klingelte das Handy. Eva war am Telefon, ihre Mitarbeiterin. Die Regierungschefin von Kalabrien, sagte sie, sei noch am selben Abend zum Gespräch mit dem SPIEGEL bereit. Treffpunkt: ihre Privatwohnung in der kalabrischen Stadt Cosenza.
Es sollte darum gehen, wie das Coronavirus Italien verändert. Vor allem: wie es die Wirtschaft angreift, die Lebensgrundlage von zahllosen Menschen zerstört. Kalabrien ist ein interessanter Ort, um diesen Effekt zu studieren, die Region liegt ganz unten an der Fußspitze des italienischen Stiefels, sie gehört zu den ärmsten des Landes und ist traditionell durch die Verbrechen der ‘Ndrangheta, rote Zwiebeln und Zitronen bekannt. Man kann sagen: Kalabrien ging es schon vorher schlecht. Und die Pandemie hat die Lage nicht verbessert.
Erst im Januar hatte Jole Santelli die Regionalwahl in ihrer Heimat gewonnen, eine charismatische Politikerin aus der Berlusconi-Partei Forza Italia. Sie war eine ungewöhnliche Frau, die aus der Zeit gefallen schien, so wie ihre seit Langem schrumpfende Partei: Während Scharfmacher wie Matteo Salvini mit lauten Sprüchen das rechte Lager in Italien dominieren, setzte Jole Santelli auf moderate Töne. Und als Forza Italia landesweit nur noch sechs oder sieben Prozent Zustimmung schaffte, errang sie in Kalabrien einen haushohen Sieg. Den Wahlabend feierte sie ausgelassen mit dem Volkstanz Tarantella.
Santelli musste kämpfen. Um ihre Region. Und um ihr Leben.
Wenige Wochen später hatte Covid-19 alles verändert. Alle wussten: Einen Patientenansturm wie in der reichen Lombardei würde das marode Gesundheitswesen Kalabriens nicht verkraften. Und die Unternehmen im Süden hatten der drohenden Rezession wenig entgegenzusetzen.
Santelli musste kämpfen. Um ihre Region. Und gleichzeitig, wie sich für mich erst später herausstellte, um ihr Leben.
Um 18 Uhr öffnet sich die Tür zu ihrem Privatsalon. Der Raum ist mit klassischen Möbeln eingerichtet, es gibt ein Klavier, an den Wänden hängt zeitgenössische Kunst, Korallenmotive und Keramiken sorgen für Lokalkolorit.
Jole Santelli liegt auf ihrem Sofa und raucht. Sie trägt einen schwarzen Jogginganzug, ihr Gesicht sieht schmaler aus als auf Fotos, die Füße sind von einer Decke umschlungen, auf dem Boden stehen schwarze Plüschpantoffeln. Mit einem freundlichen, fast entschuldigenden Gesichtsausdruck begrüßt sie den Besucher; ihr Blick wirkt ein bisschen fatalistisch und zugleich belustigt, als bitte sie um Verständnis für die ungewöhnliche Interviewsituation.
Aber ihre Worte sind kaum zu hören. Il Presidente, wie die offizielle Anrede lautet, spricht im Flüsterton. Eine Stunde lang gewährt sie ein dahingehauchtes Interview, das manchmal nur zu verstehen ist, weil ein politischer Berater und ihr Pressesprecher, die beide anwesend sind, besonders leise Sätze in lauterem Italienisch wiederholen.
Santelli, erklären die beiden Herren, als ihre Chefin kurz den Raum verlässt, habe das Radrennen Giro d’Italia besucht. In den Bergen, auf 1500 Metern Höhe, sei es kalt gewesen, dort habe sie sich einen Infekt zugezogen und ihre Stimme verloren.
Nichts Ernstes also. Angst vor Corona? Nein, nein, wispert die Politikerin, als sie in den Salon zurückkehrt und sich wieder aufs Sofa legt, der Hals sei ihre schwache Stelle.
Was war schlimmer in den ersten Monaten der Pandemie, die Angst vor einer unkontrollierbaren Ansteckungswelle, die von Bergamo und Mailand aus den Süden überrollt? Oder die Furcht vor einem Crash, vor einem wirtschaftlichen Dominoeffekt, bei dem eine Firma nach der nächsten fällt? «Es war beides gleichzeitig», sagt Santelli. Sie spricht von den Schwierigkeiten im Gesundheitswesen, an dem Italien zu sehr gespart habe. «Geld stand immer über allem», sagt sie. Dann geht es um die Hilfen, die die Pizzabäcker, Eisdielenbetreiber und kleinen Hoteliers so dringend benötigten, und um die Sommersaison, die trotz allem gut gelaufen sei, «benissimo», flüstert Santelli und strahlt.
Vor dem Fenster wird es dunkel, leise wehen Kirchengesänge hinüber
Draußen vor dem Balkonfenster wird es langsam dunkel. Von der Straße ist das Hupen der Autos zu vernehmen, leise wehen Kirchengesänge hinüber. Il Presidente hustet, sie hat sich eine weitere Zigarette angezündet, an deren Spitze sich bedenklich lange Asche bildet; gerade noch rechtzeitig stürzt der Berater zum Sofa und reicht einen Aschenbecher.
Santelli spricht jetzt von dem, was ihr vor allem am Herzen liegt. Italien. Die scheinbar ewige, fast schicksalshafte Verliererrolle des armen Südens. Und die arrogante, herablassende Haltung des reichen Nordens. Worte, die ihr besonders wichtig sind, versucht sie, so gut es eben geht, etwas lauter auszusprechen.
«Kohl», flüstert Santelli, «die Wiedervereinigung». Die Deutschen hätten viel und am Ende erfolgreich in die Einheit investieren, sagt sie. Ihr Heimatland hingegen habe ähnliches nicht geschafft. «Italien hat das Problem des Südens nie gelöst.»
Auch nicht ihr Parteichef Silvio Berlusconi, der langjährige Ministerpräsident, dem sie einst in Rom als Staatssekretärin diente? «Es ist ihm nicht gelungen.»
Warum? «Die herrschende Klasse im Land wird immer vom Norden gestellt», flüstert sie, «diese Klasse hat nie eingesehen, dass der Süden eine Bedeutung für den Norden hat, diese Klasse glaubt, dass der Süden immer bloß Geld kostet.»
Es ist eine traurige Erzählung, die sich durch die Geschichte und Literatur Italiens zieht, seit Garibaldi und Vittorio Emanuele II. die Nation vor rund 160 Jahren vereinten. Sie handelt von einem resignierten, rückwärtsgewandten Süden, der selbst nicht an seine Zukunft glaubt, der «müde und ausgelaugt» ist und in einem ewigen «Dämmerschlaf» verharrt, wie die Romanfigur «Der Gattopardo» in Giuseppe Tomasi di Lampedusas im benachbarten Sizilien spielenden Epos sagt. War Santelli eine solche Gattopardin, mutlos und erschöpft?
In den letzten Stunden tarnt sie ihren Zustand mutig mit einer Erkältung
Später wird in den Zeitungen zu lesen sein, dass Jole Santelli schon vor Jahren an Krebs erkrankt war, dass ihr Tumore zu schaffen machten.
Es ist ein bemerkenswertes, denkwürdiges Interview, das sie an diesem Abend gibt. Niemand im Raum wird mit ihrem nahen Tod gerechnet haben; Santelli hat Pläne, eine Woche später will sie das Filmfestival in Rom besuchen, wo ein Film über ihre Heimat gezeigt wird.
In ihren letzten Stunden ist Santelli eine Frau, die ihren Zustand mutig mit einer Erkältung tarnt. Sie lässt keinerlei Verzweiflung erkennen, und von ihren körperlichen Beschwerden spricht sie insgesamt nur wenige Sekunden, sie hat Bedeutenderes im Sinn. «Heute haben wir die historische Chance, das Problem des Südens ein für allemal zu lösen.» Ihre letzte Hoffnung richtet sich auf Europa. Mehr als 200 Milliarden Euro sollen aus dem Recovery Fund nach Italien fließen.
Wichtig sei nur, dass Rom nicht in die Quere komme, die Regierung in der Hauptstadt habe nämlich bis heute noch keine Antwort auf die wirtschaftlichen Probleme gefunden. Übrigens könne sie die Sorgen mancher Deutscher, dass die EU-Milliarden von Rom womöglich verplempert würden, teilen. «Die Deutschen haben recht! Ich habe diese Sorgen auch!»
Allerdings dürfe Kalabrien nicht dafür bestraft werden. Santelli selbst spricht nicht von einem Vermächtnis, nur im Nachhinein klingt es so, als sie das für sie vielleicht wichtigste Projekt für die Zukunft beschreibt: die Brücke zwischen Kalabrien und Sizilien, über die Meerenge von Messina.
Sie ist ein Symbol für den großen süditalienischen Traum von Europa, ein Traum der schon oft geplatzt ist. Seit 50 Jahren wird die Brücke bereits diskutiert und geplant, aber nie gebaut. «Sonst wären wir ja nicht in Italien», scherzt Santelli. Aber jetzt, so kann man ihre letzten Worte verstehen, ist die Zeit dafür reif, jetzt können die Brücke und bessere Verkehrswege durch Kalabrien den abgehängten Süden wieder zu dem machen, was er in ferner Vergangenheit schon einmal gewesen ist: ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Europas.
Am nächsten Morgen melden die Agenturen den Tod der Politikerin. Jole Santelli ist in der Nacht zum 15. Oktober in ihrer Wohnung an inneren Blutungen gestorben, eine Folge ihrer Krebserkrankung. Sie wurde 51 Jahre alt.
Source: spiegel.de
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