Auf dem Weg zu einem neuen Land haben Tausende Chilenen brutale Verletzungen in Folge von Polizeigewalt davongetragen, manche haben ihre Augen verloren, einige sogar ihr Leben. Seit Beginn der Massenproteste vor einem Jahr, die durch die Fahrpreiserhöhungen der U-Bahn in Santiago ausgelöst wurden, fordern Hunderttausende mehr soziale Gleichheit, politische und wirtschaftliche Reformen.
Nun steht das Land vor einem historischen Umbruch: Am Sonntag stimmen die Chilenen über eine Reform der Verfassung ab. Die aktuelle gilt noch als Erbe der Pinochet-Diktatur. Die Bürger entscheiden in einem Referendum, ob die Verfassung neu geschrieben werden soll, und von wem — durch eine Bürgerversammlung oder durch ein gemischtes Konvent aus Parlamentariern und Bürgern. Prognosen zufolge wollen mehr als zwei Drittel der Chilenen eine Reform.
Der Reform-Prozess wird landesweit von Kundgebungen begleitet: Am Jahrestag der Massenproteste am vergangenen Wochenende sind allein in der Hauptstadt Santiago wieder Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, bereits zuvor waren immer wieder kleinere Proteste trotz Lockdown aufgeflammt.
Hier berichten junge Chilenen, warum sie sich der Protestbewegung angeschlossen haben, was sich ändern muss — und wie sie sich für den Wandel engagieren.
Bárbara Belén Brito Carrasco, 30: «Wir brauchen eine Gesellschaft, die nicht nach der Logik der Reichen funktioniert»
«Die Proteste am Jahrestag vor einer Woche waren beeindruckend. Wir waren mehr als 10.000 Menschen, die von morgens bis abends in Santiago protestiert haben — die größten Demonstrationen seit dem Ausbruch der Pandemie. Wir fordern eine gerechtere Gesellschaft.
An der Schule, an der ich unterrichte, sehe ich zum Beispiel jeden Tag, wie prekär das öffentliche Bildungssystem ist. An staatlichen Schulen ist es manchmal so kalt, dass sich die Schüler nicht konzentrieren können oder es regnet in die Klassenräume hinein. Oft sitzen 50 Schüler in einem Raum, sodass es unmöglich ist, kreativere Lehrmethoden auszuprobieren und wir können uns auch nicht um die psychischen Probleme einzelner Kindern kümmern, die unter Armut, häuslicher Gewalt oder Hunger leiden. Je mehr du zahlst, desto bessere Privatschulen kannst du dagegen besuchen.
In den vergangenen Jahren haben wir von den verschiedenen Regierungen auf Proteste nie eine Antwort bekommen, sondern nur Repression. Wir brauchen eine Gesellschaft, die nicht wieder nach der Logik der Reichen, der Unternehmer und der alten Parteien funktioniert — deswegen sollten es auch keine Vertreter etablierter Parteien sein, die den Prozess zu einer neuen Verfassung bestimmen.
Ich will, dass Präsident Sebastián Piñera nach all den Menschenrechtsverletzungen zurücktritt; und wir lancieren gerade das «Comando por una Asamblea Constituyente Libre y Soberana» — eine Kampagne für eine wirklich unabhängige verfassungsgebende Versammlung, bei der auch Arbeiter, ärmere Menschen, Frauen und Indigene Entscheidungsmacht haben.»
Alexander Vergara, 32, Musiker und Filmemacher: «Ich habe so viel Gewalt gesehen, auch Tote»
«Ich habe mich bei den Massenprotesten von hinten nach vorne gearbeitet: Erst habe ich Autos umgeleitet, ich habe geholfen, Verletzte wegzutragen, irgendwann stand ich mit armen Menschen, aber auch mit Anwälten in der ersten Reihe, um die Protestierenden von der Militärpolizei abzuschirmen.
Ich habe so viel Gewalt gesehen, auch Tote. Ich war fast jeden Tag voller Blut. Als ich einmal eine Barrikade gebaut habe, hat ein Polizist mit einem Schlagstock auf mich eingeprügelt und mir zwei Rippen gebrochen. Der Staat kämpft brutal, weil er gemerkt hat, dass er viel zu verlieren hat.
Die chilenische Militärpolizei ist in der Diktatur entstanden und setzt immer noch auf Strategien aus dieser Zeit: einfach zuschlagen. Ich habe als Schüler angefangen für eine gerechtere Gesellschaft zu protestieren und weiß: Sie prügeln auch auf Minderjährige ein. Sie wissen nicht, was Menschenrechtsverletzungen sind — Menschen nackt auszuziehen, zu foltern, das ist in Chile Standard.
Die Sicherheitskräfte leben in einer Parallelgesellschaft mit eigenen Renten, eigenen Krankenhäusern und Schulen; dort herrscht noch Kalte-Krieg-Mentalität. Sie halten Menschen, die demonstrieren gehen, für Kommunisten, die man bekämpfen muss.
Wir müssen die Militärpolizei komplett auflösen und eine neue nationale Polizei schaffen, die keine militärischen Strukturen hat und die zivil kontrolliert wird. Wir brauchen weniger Waffen und mehr Bildung: Auch Polizisten müssen besser ausgebildet werden — wer die Gesetze schützen soll, muss sie auch kennen.
Sonntag ist für mich der wichtigste Tag in der modernen Geschichte von Chile: Wir versuchen unsere eigene Verfassung zu schreiben und es fühlt sich gerade so an, als ob wir gewinnen werden. Ich funktioniere langsam wieder, aber ich kann keine Gewalt ertragen. Ich hatte monatelang Albträume. Derzeit mobilisiere ich auch andere, wählen zu gehen und schneide Clips für soziale Netzwerke, die über die Verfassungsreform informieren.
Wenn wir es schaffen, in den nächsten zwei Jahren eine neue Verfassung und eine Sozialdemokratie zu etablieren, dann werden Polizisten hoffentlich in Zukunft dazu da sein, Demonstrationen zu begleiten — und nicht, um sie zu zerschlagen.»
Alex Dixon Fajardo, 25, Student: «Viele wissen nicht, wie sie überleben sollen»
«Ich lebe in Valparaiso und habe im vergangenen Oktober beobachtet, wie die Protestwelle die Hauptstadt Santiago überrollt hat, sich nicht nur immer mehr Studenten, sondern auch Arbeiter und Familien der Bewegung angeschlossen haben. Meine Freunde und ich wollten die Proteste auch nach Valparaiso bringen und so sind wir alle spontan auf die Straße gegangen. Es war aufregend und schön — und der Moment, in dem wir endlich gehört wurden.
Viele Menschen in Chile sind frustriert, wie die Regierung das Land führt. In Valparaiso zerfallen historische Gebäude, viele Studenten landesweit sind mit hohen Studienkrediten verschuldet. Die Kluft zwischen den Bürgern und der politischen Elite ist extrem. Sie sind völlig von der Realität abgekoppelt, ihnen fehlt Empathie. Die Politiker wussten zum Beispiel genau, dass die Menschen nichts mehr zu essen haben, wenn sie nicht arbeiten gehen dürfen — trotzdem gab es keine finanzielle Unterstützung während des Lockdowns.
In der Pandemie ist die Armut noch sichtbarer geworden. Viele haben ihre Arbeit verloren oder sie arbeiten im informellen Sektor und wissen nicht, wie sie überleben sollen. Ich bin in der Kirche aktiv und wir haben eine olla común, eine Gemeinschaftsküche organisiert, um den Hunger ein bisschen zu lindern — seit Juni verteilen wir Mittagessen an 70 Familien.
Gerade gehe ich wegen Corona nicht zu Protesten. Ich will meine Familie nicht gefährden und ich darf auch nicht krank werden, weil ich am Sonntag unbedingt abstimmen will. Eine neue Verfassung wäre ein Fortschritt und würde die Wut der Leute etwas lindern — aber sie ist nur ein Anfang.
Auf Bürgerversammlungen haben wir vor der Pandemie diskutiert, welche politischen Veränderungen wir brauchen, jetzt organisieren wir Zoom-Foren. Es gibt viel Hass, Intoleranz und die Gesellschaft ist polarisiert. Ich will aber, dass wir gemeinsam vorwärtskommen, obwohl wir unterschiedlich denken.»
Valentina Pinera, 32, Geografin: «Wir brauchen Städte für alle»
«Bei den kleinen und größeren Protesten, die gerade fast jeden Tag stattfinden, kann man spüren, wie müde, aber auch wie wütend die Menschen sind. Das neoliberale Wirtschaftsmodell, das in der Diktatur etabliert wurde, hat die Ungleichheit verschärft und nicht nur zu extremer Armut, sondern auch zu einer miserablen Lebensqualität für die Mehrheit der Bevölkerung geführt.
Wir brauchen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben für alle, bisher stehen Wirtschaftsinteressen an erster Stelle. In Chile sind alle Sektoren, die eigentlich öffentlich sein sollten, privatisiert worden — von Gesundheit und Bildung, bis hin zum Wasser.
Konzerne beuten die Umwelt brutal aus und zerstören sensible Ökosysteme, etwa durch Minen, Abholzung, Industrieabfälle oder Lachsfarmen. Unsere Eisberge, die als Wasservorräte wichtig sind, schmelzen in Folge von Ausbeutung und des Klimawandels ab. Chile besitzt auch einige Städte mit der höchsten Luftverschmutzung weltweit.
Ich engagiere mich in sozialen Organisationen wie «Ciudad Feminista», eine Initiative, die sich für Stadtentwicklung und Umweltpolitik mit einer feministischen Perspektive einsetzt. Es ist wichtig, dass unsere Ressourcen wieder zu Gemeingut werden — und wir brauchen Städte für alle.
Die asymmetrischen Machtverhältnisse spiegeln sich in Städten wie Santiago wider: Die Städteplanung konzentriert sich vor allem auf Wirtschaftstätigkeiten wie Produktion und Konsum, es gibt aber nicht genug Freizeitangebote. Ärmere Viertel haben eine schlechtere Ausstattung und kaum Bäume, die wohlhabenderen Viertel haben einen direkten Zugang zu Grünanlagen. Santiago ist auf Autos ausgerichtet und nicht auf Fußgänger oder Fahrradfahrer.
Wir brauchen auch Strategien, damit Frauen und Mädchen sich sicherer fühlen. Sie sind sexuellen Übergriffen ausgesetzt, und wenn wir nicht darüber nachdenken, wie eine Stadt für alle aussehen muss, entstehen dunkle Straßen, blinde Flecken oder menschenleere Orte, die gefährlich sind. Ich hoffe, dass das Plebiszit am Sonntag die Bevölkerung nicht einschläfert, sondern neue Proteste mobilisiert — damit wir alle unsere Forderungen durchsetzen können.»
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Source: spiegel.de
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