Die Korallen sollen unter Stress geraten, das wollen Sam Teicher und sein Team so. In den Wasserbecken, in denen sie die Nesseltiere züchten, drehen sie die Temperatur herauf und herunter, sie erhöhen den Säuregehalt des Wassers. Kurz: Sie spielen Klimawandel, um die Korallen widerstandsfähiger zu machen — damit diese länger überleben, wenn sie später wieder im Meer ausgesetzt werden.
«Korallen können sich eigentlich gut an veränderte Umweltbedingungen anpassen, aber sie sind nicht schnell genug für den Klimawandel», sagt Teicher. «Wir schicken die Korallen sozusagen ins Fitnessstudio.»
Zusammen mit seinem Freund Gator Halpern hat der 30-jährige US-Amerikaner das soziale Start-up «Coral Vita» in der Karibik gegründet. Sie wollen Riffe wieder aufforsten — indem sie in Farmen an Land Korallen züchten, die nicht nur resistenter werden sollen, sondern auch viel schneller wachsen als in der Natur. Später werden sie dann wieder ins Meer ausgesetzt.
Die Mission der Farmer ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Weltweit sind Korallenriffe vom Aussterben bedroht, viele der von Fischen, Krebstieren, Schwämmen und anderen Meeresbewohnern bevölkerten Ökosysteme haben sich bereits in Friedhöfe verwandelt: An die frühere Farbenpracht erinnern nur noch ausgebleichte Skelette.
Korallen leben in einer Symbiose mit Algen, die den Riffs normalerweise ihre intensiven Farben verleihen. Wenn sich die Wassertemperatur etwa stark erhöht, kann es zu einer sogenannten Korallenbleiche kommen, die zum späteren Absterben der Korallen führen kann. Werden die Algen aus dem Korallengewebe ausgestoßen, bleibt nur das helle Kalkgehäuse übrig, in dem die Korallen leben.
Dauert die Korallenbleiche nur kurz, kann das Gewebe der Korallen wieder Algenzellen aufnehmen und die Symbiose fortsetzen. Tritt die Korallenbleiche dagegen über einen längeren Zeitraum oder häufig nacheinander auf, können die Nesseltiere ganz sterben, und das gesamte Ökosystem bricht zusammen.
Korallen leiden seit Jahren unter veränderten Umweltbedingungen, vor allem dem Anstieg der Wassertemperatur und der Versauerung des Wassers. Aber auch Hurrikane, Pestizide, Düngemittel und andere Schadstoffe, Überfischung oder Fischerei mit Dynamit oder Zyanid beschädigen Riffe.
Der Unesco zufolge wurde bereits die Hälfte der weltweiten Korallenvorkommen zerstört. Noch in diesem Jahrhundert könnten auch die restlichen Riffe aussterben, warnt die Uno-Organisation — wenn der CO2-Ausstoß nicht ausreichend verringert würde, um die Erwärmung des Ozeans zu verlangsamen. Das Korallensterben trifft nicht nur rund ein Viertel aller Unterwasserorganismen, sondern auch etwa eine Milliarde Menschen, denen die Ökosysteme Nahrung und Einkommen liefern.
Pflanzen und Fische vermehren sich in den Riffen, Raubfische finden dort ihre Nahrung — und Menschen aus Küstenregionen sind auf Riffe als Fischgründe und als Touristenattraktion angewiesen. Allein der Wert von Korallen für die weltweite Tourismusbranche wird pro Jahr auf 36 Milliarden Dollar geschätzt. Zudem fungieren die stabilen Strukturen als Wellenbrecher und verhindern, dass Küstengegenden und Strände abgetragen oder überschwemmt werden.
«Riffe sind nicht nur ein ökologisches Wunder, sie sind auch wirklich wertvoll», sagt Sam Teicher. Teicher, heute «Chief Reef Officer» bei «Coral Vita», hätte selbst nicht gedacht, dass er einmal Korallenfarmer werden würde. Er ist in der US-Hauptstadt Washington, D.C. aufgewachsen, interessierte sich anfangs eher für Sicherheitspolitik und Bildung. Allerdings hatte er bereits als Kind mit dem Tauchen angefangen, auf dem College begann er sich mit dem Klimawandel und seinen Folgen auseinanderzusetzen.
Als er während einer Auszeit in Mauritius ein Korallen-Restaurationsprojekt entdeckte, faszinierte ihn, wie Korallenriffe sich wieder erholen können. Die dortige NGO betrieb allerdings traditionelle Korallenzucht: Sie hatte eine Unterwasserstation eingerichtet, in denen Korallenfragmente im Meer wachsen konnten — Taucher mussten die Nesseltiere betreuen. Teicher fand das Modell zu aufwendig und zu begrenzt. Im Masterstudium an der Yale School of Forestry and Environmental Studies entwickelte er deswegen zusammen mit seinem Kommilitonen Gator Halpern das Konzept für «Coral Vita».
Auch andere Forscher und gemeinnützige, aber auch gewinnorientierte Organisationen züchten bereits Korallen an Land, in Labors oder unter Wasser, oft aber noch in einem kleineren Stil. «Die Wiederherstellung der Korallenriffe ist ein Wachstumsbereich, und ähnliche Projekte finden heute weltweit auf verschiedenen Ebenen statt», beobachtet Tom Moore, Leiter des Korallenriff-Restaurierungsteams der US-Wetter- und Ozeanografiebehörde NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration). «Die Projekte zeigen, dass die Wiederherstellung der Riffe möglich ist, und die Erfolge werden immer größer.»
Mit seinem Geschäftsmodell will «Coral Vita» die Korallenzucht skalieren — mit einem möglichst nachhaltigen Geschäftsmodell: Das soziale Start-up bietet die Riff-Restauration als Dienstleistung an, vermarktet die Korallenfarmen aber auch als Touristenattraktion und organisiert Workshops. Zu den potenziellen Kunden zählen etwa Hotelbetreiber, Regierungen, Versicherungsgesellschaften, Häfen, Kreuzfahrtgesellschaften, aber auch globale Entwicklungsorganisationen.
Teicher ist im Skype-Interview von der Sonne gebräunt, die braunen Haare trägt er kinnlang — die vergangenen Pandemiemonate hat er auf der ersten Pilotfarm von «Coral Vita» auf Grand Bahama verbracht, einer der nördlichsten Inseln der Bahamas. Dort ist der Bedarf an Riff-Restaurierung groß, Teicher zufolge sind rund 80 Prozent der Korallenriffe tot — und Tourismus, aber auch Fischerei spielen eine große wirtschaftliche Rolle. Zudem sei die Regierung bereit gewesen, das Projekt zu unterstützen.
Auf der Farm setzen die Korallenzüchter seit Mai 2019 innovative Methoden in die Praxis um, die Wissenschaftler entwickelt haben — von den Erkenntnissen profitieren beide Seiten. «Forscher suchen Antworten auf Fragen, die dann von Naturschützern angewandt werden können», sagt Kira Hughes vom Hawaii Institute of Marine Biology.
Einem anderen Partner von «Coral Vita», dem gemeinnützigen Meeresforschungsinstitut «Mote Marine Laboratory» in Florida, ist es mit der sogenannten Mikrofragmentierungsmethode gelungen, Korallen bis zu 50 Mal schneller zu vermehren als in der Natur — nach fünf Jahren waren die so erzeugten Korallen sogar in der Lage, selbst Nachwuchs zu bekommen.
Die Korallengärtner von «Coral Vita» brechen Fragmente von lebenden Korallen aus der Gegend ab und kleben die Stücke an Land auf Kacheln in Wasserbecken, durch die sauberes Meerwasser gepumpt wird. Dort wachsen die Korallen schnell und ungestört weiter. «Man nimmt ein Fragment von der Größe eines Daumens, und in sechs bis neun Monaten hat man eine Koralle, die so groß ist wie eine Hand», erklärt Teicher.
Je nach Art bleiben die Korallen sechs bis achtzehn Monate auf der Farm, bis sie groß und resistent genug sind für das Meer. In den Wasserbecken können die Farmer die Umweltbedingungen genau regulieren — und etwa die Temperatur verändern, um die Korallen auf die zukünftigen Bedingungen in Freiheit vorzubereiten.
Um die Korallen wieder in ihrem natürlichen Lebensraum anzusiedeln, tauchen Teicher und seine Kollegen später zu den geschädigten Riffen im Meer, bohren Löcher und befestigen die Korallen mit einem ungiftigen, wasserfesten Klebstoff im Riff, wo sie verwachsen. Vorher inspiziert das Team aber die Gegenden rund um die Riffe, die aufgeforstet werden sollen. In einem Fall mussten sie etwa den Auftrag eines Hotels ablehnen — weil in der Nähe kontinuierlich Industrieabwasser einer Textilfirma ins Meer floss. Auch die neuen Korallen hätten dort nicht überlebt.
Riff-Restauration allein könne die Korallen nicht retten, schränkt auch Tom Moore von der US-Wetter- und Ozeanografiebehörde NOAA ein: «Auf globaler Ebene müssen wir den Energieverbrauch drastisch und schnell senken, auf erneuerbare Energiequellen umstellen und kohlenstoffabsorbierende Ökosysteme wie Wälder, Feuchtgebiete und Mangroven erhalten», sagt er. «Auf lokaler Ebene müssen wir Bedrohungen wie Überfischung und Umweltverschmutzung bewältigen und gleichzeitig die Riffe durch Wiederherstellung und neuartige ökologische Eingriffe mit widerstandsfähigen, genetisch vielfältigen und lebensfähigen Korallenpopulationen neu besiedeln.»
Im kommenden Jahr wird die Farm von «Coral Vita» weiter ausgebaut, das Team soll auf ein Dutzend Mitarbeiter wachsen. Profitabel ist das Start-up noch nicht, das Geld kommt bisher von Investoren.
Das internationale Artenschutzabkommen CITES verbietet, dass Korallen über Ländergrenzen hinweg exportiert werden. Um Riffe wiederherzustellen, müssen die Nesseltiere daher vor Ort gezüchtet werden. Teicher und sein Team wollen deshalb in Zukunft weltweit in Küstengegenden weitere Farmen aufbauen, derzeit eruieren sie die Möglichkeiten etwa auf Barbados, Mexiko oder den Fidschi-Inseln. Die Zahl der Standorte ist im Prinzip unbegrenzt — denn überall auf der Welt sind Korallenriffe vom Aussterben bedroht.
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Source: spiegel.de
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