Vor dem Klinikum Dortmund hält Samuel Okae noch kurz an. Der Unfallchirurg und Orthopäde sitzt in seinem zwölf Jahre alten Peugeot, beide Hände ruhen auf dem Lenkrad. Kopf und Oberkörper neigt er nach links, schaut hoch bis zum Dach des zehnstöckigen Neubaus auf der anderen Straßenseite.
«Verrückt», sagt er an die Scheibe der Fahrertür. «Die haben hier im Juli mit dem Bau begonnen. Jetzt sind schon die ersten Fenster drin.» Dann lacht er, setzt sich gerade hin, fährt los. «Zwei Monate. Ich habe in Ghana neun Jahre gebraucht, um so weit mit drei Stockwerken zu kommen.»
Samuel Okae, 39, ist Arzt und baut ein Krankenhaus in Ghana. Dessen drei Stockwerke waren lange ein rund 3500 Quadratmeter großer Rohbau in Accra, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes. Als Okae das letzte Mal dort war, Ende 2019, konnten endlich alle Fenster eingesetzt werden. Der SPIEGEL hat den Mediziner auf der Baustelle begleitet. Damals hoffte er, sein Krankenhaus innerhalb dieses Jahres fertigstellen zu können.
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Doch oft geht der Bau nur langsam voran. Manchmal fehlen Arbeiter, manchmal fehlt das Geld für den nächsten Schritt. Und dann kam auch noch die Corona-Pandemie.
Das Klinikum Dortmund und der neue Anbau werden nun im Rückspiegel immer kleiner. Samuel Okae ist seit sechs Uhr früh unterwegs, ohne Stau wird er nun rechtzeitig zum Abendessen bei seiner Frau und den Kindern sein. Während der Autofahrt nach Hause brummt immer wieder das Telefon: WhatsApp-Nachrichten und neue Fotos von dem Bau in Ghana, Anrufe von einem Maurer. «Ich habe eigentlich nie frei», sagt Okae. «Die Pandemie hat alles gebremst, aber wir machen trotzdem weiter. So gut es eben geht.»
Eigentlich wollte er im April wieder in Accra sein, mit einem Team von ehrenamtlichen Fliesenlegern aus Deutschland den kompletten Fußboden sowie einige Wände kacheln. Doch die Grenzen wurden dichtgemacht. «Dann schlossen auch die Geschäfte, nirgends war mehr Zement zu bekommen», sagt Okae. «Wir haben viele Wochen verloren.»
Das ärgert ihn besonders, weil die Pandemie auch gezeigt hat, wie wichtig der Ausbau einer medizinischen Grundversorgung in vielen afrikanischen Ländern ist. Es fehlt an Ärzten und guten Krankenhäusern. In Ghana verlässt inzwischen jeder zweite Mediziner nach der Ausbildung das Land, geht nach Europa oder in die USA. «Die Arbeitsbedingungen sind zu schlecht», sagt Okae, selbst geboren und aufgewachsen in Ghana.
Okae ging direkt zum Studieren nach Berlin. Seit 18 Jahren lebt er in Deutschland, seit acht Jahren arbeitet er in Dortmund. Er mag die Stadt und er mag seinen Job. Sein Herz aber schlägt für seine Heimat. Okae träumt von einem Krankenhaus mit mehreren Operationssälen, einer Kinderstation, Gynäkologie und Notfallambulanz. Und weil es das so, wie er es sich wünscht, in Ghana noch nicht gibt, hat er vor neun Jahren angefangen, die Klinik zu bauen.
Der Plan: Bis zu hundert Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger sollen dort gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Okae hat inzwischen einige Bewerbungen bekommen — es spricht sich herum, was er vorhat.
Außerdem sollen Kinder unter fünf Jahren in seinem Krankenhaus kostenlos behandelt werden. Noch immer sterben in Ghana viele Kinder an Infektionskrankheiten und Malaria, weil sich ihre Eltern eine Behandlung nicht leisten können. Denn die muss bezahlt werden, bevor sie stattfindet.
An einem normalen Arbeitstag in der Orthopädie Dortmund führt Samuel Okae viele Behandlungen durch, die in Ghana für einen Großteil der Bevölkerung unbezahlbar wären. Genauso wie die Versorgung mit Medikamenten und die Anzahl an Medizinern. Für Okae stehen am nächsten Tag drei Operationen an.
Nach der Visite um sieben Uhr morgens hat er noch einige Besprechungen und geht dann zum OP. Auf dem Weg sprechen ihn einige Kollegen an, im Oktober wird er als Oberarzt in die Unfallchirurgie eines anderen Krankenhauses wechseln: «Samuel, dass du uns verlässt», sagt einer, «du wirst hier fehlen.» Okae fällt es nicht leicht. Es ist eine Entscheidung für die Zukunft. «In Ghana lässt kaum jemand seine schiefen Zehen richten. Ich werde es dort aber bestimmt mit einigen Unfällen zu tun haben», sagt er im Gehen. «Dafür kann ich hier gut noch mein Wissen erweitern.» Wenn das Krankenhaus in Ghana fertig ist, will er langfristig mit seiner Familie dorthin ziehen.
Dann stülpt er sich die OP-Kleidung über, wäscht und desinfiziert seine Hände und Arme, begrüßt die Schwestern. In den kommenden anderthalb Stunden wird er eine beidseitige Pfannendachplastik durchführen, um die Hüftgelenke eines dreijährigen Mädchens zu korrigieren. Danach mit den Eltern sprechen und einen Bericht schreiben, dann noch zwei OPs. Keine Pause. «Dafür komme ich aber meistens pünktlich raus», sagt er.
Am Abend zuvor fährt er in den Süden der Stadt, erst an Einfamilienhäusern und dann weiten Feldern vorbei. Er mag es, in der Natur zu wohnen. Spazieren geht er aber nicht. «Ich habe das nie verstanden, nur so rumzulaufen. Ich muss immer ein Ziel haben», sagt er. In seiner Freizeit ist er am liebsten im Baumarkt. «Das ist effektiver.» Kaum hat er das Auto vor einem schmalen weißen Haus geparkt, macht ihm seine fünfjährige Tochter schon die Tür auf. Er streicht ihr über den Kopf, stellt die Tasche ab, begrüßt seine Frau und die anderen Kinder, die kichernd auf der Treppe in den ersten Stock stehen.
Am Fuß der Treppe schiebt sich Okae an einem Standfahrrad, über dessen Lenker viele schwarze Kabel hängen, vorbei. Ein Belastungs-EKG. Im Wohnzimmer blockiert ein klobiges Ultraschallgerät eine Seite des Esstisches. «Das sind Spenden von einem Allgemeinmediziner mit eigener Praxis», sagt er. «Richtig gute Geräte. Ich wollte sie nicht zusammen mit anderen in einem Container verschiffen. Wenn mit dem etwas passiert, habe ich ja alles verloren.»
Hunderttausende Euro hat Samuel Okae in den vergangenen Jahren aus eigener Tasche für sein Krankenhaus in Ghana ausgegeben. Um Geld zu sparen, war er neben seinem regulären Job unter anderem viele Nächte als Notarzt unterwegs. Ferien mit seiner Familie hat er schon lange nicht mehr gemacht. Wenn er Urlaub nimmt, dann meist, um nach Accra zu fliegen und den Bau voranzutreiben.
Seit 2016 wird Okae außerdem über einen deutschen Verein durch Geld- und Sachspenden unterstützt. Mit ausrangierten Fenstern, Türen, Wandfarbe, Fliesen und Gardinen sowie medizinischem Equipment wie gebrauchten Krankenhausbetten, Untersuchungsgeräten und Verbandsmaterial stückelt er nach und nach seinen Traum zusammen. Alles, was er ansammelt, verschifft er per Container nach Ghana.
Acht solcher Container stehen größtenteils noch gefüllt vor dem Krankenhausbau in Accra, ein weiterer ist auf dem Weg. Es werden wohl noch einige dazu kommen. Vor Kurzem wurden drei Sauerstoffanlagen gespendet. Auf einer Liste in seinem Handy notiert Okae alle Dinge, die in Ghana noch fehlen. Darunter tropentaugliche Elektrokabel, Großraum-Waschmaschinen, OP-Lampen und OP-Tische, Geburtsstühle, Glasfasertapete, Fassadenfarbe, Ventilatoren und Toilettenspülsysteme. «Die wenigsten haben geglaubt, dass ich es überhaupt so weit schaffen kann», sagt er. «Mit der Hilfe vieler Menschen haben wir es aber hinbekommen, da klappt der Rest auch noch.»
Am Esstisch schreibt Okae vor dem Abendbrot noch kurz dem Projektkoordinator, der nun vor Ort den Bau unterstützt. Sie überlegen gerade, eine Solaranlage auf dem Dach zu installieren, um langfristig Geld zu sparen und das Krankenhaus unabhängig von dem oft wackligen Stromnetz zu halten. Marco Päffgen-Schmidt, 42, besucht seit Februar dreimal in der Woche die Baustelle, koordiniert die Arbeiten vor Ort und schickt Fotos von allem, was passiert. Von dem undichten Dach zum Beispiel, das in der Regenzeit schnell ausgebessert werden musste.
Der IT-Experte lebt mit seiner Frau in Accra und spendet seine Arbeitszeit, um Okae zu unterstützen. Päffgen-Schmidt ist über einen Medienbericht auf das Projekt aufmerksam geworden und wollte spontan helfen. Persönlich begegnet ist er Samuel Okae noch nie. «Wir telefonieren aber nahezu täglich und haben uns sehr gut kennengelernt», sagt Päffgen-Schmidt. «Die Coronakrise war wirklich eine besondere Herausforderung für uns und die Arbeiter in Accra.»
Ein Großteil der Arbeiter ist zu Beginn der Pandemie zurück zu ihren Familien gefahren, oft in andere Städte oder aufs Land. Dann wurden Reisen innerhalb Ghanas verboten, viele konnten deshalb nicht nach Accra zurück. Eine Handvoll Männer ist jedoch geblieben und kurzerhand auf der Baustelle eingezogen. «Sie haben ihre eigene Lockdown-Gemeinschaft gebildet, das Krankenhaus nicht mehr verlassen und gearbeitet», sagt Päffgen-Schmidt. So konnten sie weiter Geld verdienen und zu ihren Familien schicken. Der Projektkoordinator hat sie derweil mit Essen und Wasser versorgt. «Sie haben uns gebeten, bleiben zu dürfen und letztendlich hat es uns allen sehr geholfen.»
In Dortmund nennt Samuel Okae das schmunzelnd eine «sehr ghanaische Lösung». Wann er selbst wieder vor Ort sein kann, ist noch nicht klar. Seit September hat Ghana den internationalen Flugverkehr wieder zugelassen. «Wir sind aber vorsichtig», sagt Okae. Außerdem fängt er bald seinen neuen Job an und kann deshalb nicht kurzfristig Urlaub nehmen. «Vier ehrenamtliche Fliesenleger aus Deutschland wollen aber vielleicht im November fliegen.»
Ende September wird sich Okae mit dem Vortrag «Krankenhaus Ghana – Solidaritätsmedizin» am Klinikum Dortmund verabschieden. Im Hörsaal der Kinderklinik möchte er seinen Kolleginnen und Kollegen zeigen, wie weit der Bau fortgeschritten ist. Und einige von ihnen vielleicht überzeugen, ihn in Zukunft mal für ein paar Gast-OPs in Ghana zu besuchen.
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Source: spiegel.de
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