Kriminaldirektor Daniel Muth ist ein dynamischer Mann. Festen Schrittes, in Anzug mit Krawatte, marschiert er in den Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, einen Aktenordner unter dem Arm. Seine Zeugenaussage ist von Bedeutung. Am 4. Juni vergangenen Jahres bekam Muth in der Früh einen Anruf vom hessischen Justizministerium und wurde mit der Leitung der Sonderkommission im Mordfall Walter Lübcke beauftragt.
Der Kasseler Regierungspräsident war in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen-Istha erschossen worden, der oder die Täter waren unerkannt entkommen. Muth war zum Zeitpunkt des Anrufes Leiter der Kriminaldirektion Osthessen mit Sitz in Fulda, er fuhr direkt nach Kassel.
Erst dort erfuhr Muth, was noch niemand im Land wusste: Der CDU-Politiker war keineswegs mit sichtbarem Einschussloch von seinem jüngsten Sohn gefunden worden, man ging daher nicht sofort von einem Attentat aus. Erst bei der Leichenschau Walter Lübckes war die Schussverletzung oberhalb seines rechten Ohres festgestellt worden.
«Es war nicht klar, was hier überhaupt passiert war»
Es blieb nicht die einzige Merkwürdigkeit in diesem Todesfall, der von Anfang an eine große Öffentlichkeit mit sich brachte. Auch der Tatort war kein «klassischer, polizeilicher Tatort», wie es Muth vor Gericht formuliert. Denn: «Die Platte war geputzt.» Ein befreundeter Feuerwehrmann der Familie Lübcke hatte die Terrasse, auf der Walter Lübcke in seinem Gartenstuhl gesessen hatte, mit «Felgenreiniger und Wurzelbürste» blitzblank geputzt.
«Es war nicht klar, was hier überhaupt passiert war», sagt Muth im Zeugenstand. Als Leiter der Sonderkommission «Liemecke», benannt nach einem Bach nahe dem Wohnort der Lübckes, übernahm er die Organisation und Koordination von 50 Beamten, und die fuhren das volle Programm: Ermittler des hessischen Landeskriminalamtes sowie der Bereitschaftspolizei, Spezialeinheiten und Spezialkräfte des Bundeskriminalamtes, eine Hubschrauberstaffel, Mitarbeiter der Feuerwehr und des Katastrophenschutzamtes unterstützten die Einsatzmaßnahmen.
Was hatte sich in jener Nacht auf der Terrasse des Politikers abgespielt: Ein möglicher Suizid? Ein versuchter Suizid? Ein Unfall? Fremdverschulden? Muth zählt im Gericht die ersten Hypothesen der Soko auf: Organisierte Kriminalität, Windkraftgegner oder Jugendliche, die auf einen Gegenstand geschossen und versehentlich den Regierungspräsidenten getroffen hatten? Nicht zu vergessen die Möglichkeit, ein Familienangehöriger könnte involviert sein. «Alles war möglich», sagt Muth. Es galt herauszufinden: Wer war Walter Lübcke? Was hat er vor seinem Tod gemacht? Wie hat er agiert? Gab es Mordmotive?
Eine einzelne Hautschuppe an Lübckes Hemd
Schnell konnten die Ermittler die Familienmitglieder als Tatverdächtige und einen Suizid ausschließen. Und schnell geriet der befreundete Feuerwehrmann ins Visier, der sich mit Waffen auskennt und einen Waffenschein besitzt. Muth ließ ihn überwachen und auf dem Weg an die Nordseeküste schließlich von einem Spezialeinsatzkommando festnehmen. Man habe vermutet, er wolle möglicherweise eine Schusswaffe im Meer entsorgen, sagt Muth. Doch der Feuerwehrmann konnte die Widersprüche, die ihn anfangs verdächtig gemacht hatten, und auch die Gründe, warum er die Terrasse so akribisch gereinigt hatte, «schlüssig erklären». Der Mann kam frei.
Eine «gewisse Ernüchterung» habe sich bei der Soko breitgemacht, erinnert sich Muth. Für ihn aber sei «rein mathematisch» klar gewesen, dass den oder die Täter eine politische Motivation geleitet haben könnte, so habe sich die Soko mehr auf Walter Lübckes Wirken konzentriert: Damit geriet dessen umstrittenes Auftreten im Bürgerhaus von Lohfelden bei Kassel im Herbst 2015 in den Fokus. Dort hatte der 65-Jährige über die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in einem leer stehenden Baumarkt gesprochen und war zum Feindbild der rechten Szene geworden.
Eine zentrale Frage sei gewesen: Warum wird ein Regierungspräsident, der vor allem in seiner Region bekannt ist, Opfer einer solchen Attacke? Das habe, so Muth, für einen «regionalen Täter» gesprochen. Während der Soko-Leiter die Tat nacharbeitete, kam der Anruf eines Kollegen: Auf Walter Lübckes Hemd wurde eine DNA-Spur sichergestellt, samt Personentreffer — und zwar eine einzelne Hautschuppe von Stephan Ernst. «Es war der erste starke Hinweis», sagt Muth im Gericht. Stephan Ernst wurde daraufhin von Spezialeinsatzkräften in den frühen Morgenstunden in seinem Haus in Kassel festgenommen. Zu den Vorwürfen habe sich Stephan Ernst, der zuletzt 2004 auf einem Polizeirevier gewesen sei, zunächst nicht geäußert.
Das Grinsen des Markus H.
Muth wertete die Kriminalakten des Tatverdächtigen aus und stellte fest, dass sich Stephan Ernst zu all den von ihm begangenen Taten «immer bekannt» habe. Es schien so, dass Ernst «zu dem steht, was er tut», sagt Muth. «Ich dachte, wir probieren es einfach, mit ihm ins Gespräch zu kommen.» Muth schickte am 23. Juni vergangenen Jahres, drei Wochen nach dem Mord an Walter Lübcke, zwei Beamte in die Justizvollzugsanstalt. Doch Stephan Ernst habe eine Vernehmung abgelehnt.
Zwei Tage später knickte er ein. Es kam zu einem ersten Geständnis des Stephan Ernst — ohne einen Anwalt an seiner Seite, aufgezeichnet auf Video. Damals erwähnte Stephan Ernst den Mitangeklagten Markus H. nur am Rande. Anders als Stephan Ernst ist H. angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. «Hatten Sie Markus H. damals überhaupt auf dem Radar?», will Ernsts Verteidiger Mustafa Kaplan wissen. «Nein», antwortet Muth.
Der Angeklagte Markus H. schmunzelt im Gerichtssaal vor sich hin. Als dort auf einer Leinwand Fotos einer Adolf-Hitler-Büste, die in seiner Wohnung sichergestellt wurde, gezeigt werden, kann er sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Erst recht nicht, als der Soko-Chef erklärt, dass H. zur Tatzeit sein Handy ausgeschaltet hatte. Standortdaten zu seinem Handy gebe es aus der Tatnacht keine, sagt Muth.
Source: spiegel.de
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