[00:00:05] Sandra Sperber Willkommen zu Stimmenfang, dem Politik-Podcast vom SPIEGEL. Ich bin Sandra Sperber. In dieser Folge von Stimmenfang möchte ich die Geschichte eines Selfies erzählen. Ein Flüchtling knipste es im Sommer 2015 gemeinsam mit der Bundeskanzlerin.
[00:00:22] Anas Modamani Ich habe das auf Facebook hochgeladen und ein paar Leute haben gesagt: «Also Frau Merkel mit diesem Lächeln sieht einfach wunderschön aus, und wir meinen, wir wollen auch nach Europa.»
[00:00:32] Sandra Sperber Dieses Selfie wird zuerst zu einem Symbolbild der Willkommenskultur in Deutschland und dann zum Fluch für den jungen Syrer, der es gemacht hat. Die Geschichte des Bildes zeigt, wie sich Deutschland seit dem «Flüchtlingssommer 2015» verändert hat. Damals, vor ziemlich genau fünf Jahren, hat Angela Merkel einen ihrer inzwischen wohl bekanntesten Sätze gesagt.
[00:00:52] Angela Merkel Ich sage ganz einfach, Deutschland ist ein starkes Land, und das Motiv, in dem wir an diese Dinge herangehen muss sein: Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das.
[00:01:05] Sandra Sperber Ich möchte in dieser Podcast-Folge eine Bilanz ziehen der letzten fünf Jahre. Ob die Bundeskanzlerin Recht behalten hat? Doch um zu verstehen, warum sie diesen Satz so überzeugt gesagt hat, beginnen wir mit der Geschichte des folgenreichen Selfies. Anas Modamani heißt der junge Syrer, der das Merkel-Selfie mit seinem Handy gemacht hat. Er kommt im August 2015 über die Türkei, Griechenland und Ungarn nach Deutschland. Es ist die Zeit, in der täglich rund 10.000 Asylsuchende die deutsche Grenze überqueren. Am Münchner Bahnhof stehen engagierte Bürger und beklatschen die Neuankömmlinge.
[00:01:42] Sandra Sperber Anas ist 18, als er den Entschluss fasst, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
[00:01:47] Anas Modamani Das war schrecklich. Also ich hatte wirklich das Leben niemals genießen können in meinem Heimatland. Der Strom fällt aus, es sterben die Leute, findet man kein Essen mehr. Wir haben zwei, drei monatelang, wo wir wirklich nur Reis gegessen haben — also viel Schlimmes erlebt.
[00:02:03] Sandra Sperber Heute lebt Anas in Berlin. Dort habe ich ihn — man hört es vielleicht ein bisschen — auf der Terrasse eines Restaurants getroffen. Er erzählt, wie er mitten im Krieg sein Abitur gemacht hat. Dann bekommt er Post. Er soll zur Armee eingezogen werden.
[00:02:17] Anas Modamani Nach meinem Abi habe ich den Brief gekriegt, dass ich zum Militärdienst gehen musste. Ich will das nicht. Ich will keine Waffen in meine Hand nehmen, oder dass ich Leute umbringe — ich kann das nicht. Ich habe mich entschieden — ich mit meiner Mutter und Vater -, dass ich rausfliehe.
[00:02:32] Sandra Sperber Hauptsache, raus aus Syrien. Nach ein paar Tagen in der Türkei entscheidet sich Anas, weiterzuziehen. 3.000 Euro haben seine Eltern dafür zusammengekratzt. Auf Facebook findet der 18-Jährige einen Schlepper.
[00:02:45] Anas Modamani Es gab eine Gruppe, die heißt «Der Weg nach Europa», und da werde man alle Nummer kriegen, die Adressen, wo man Schlepper finden kann, wie viel Geld man zahlt.
[00:02:58] Sandra Sperber Anas erfährt, dass in Deutschland sein Abitur anerkannt wird. Außerdem hat er Freunde hier, die ihm für die ersten Tage ein Zimmer anbieten. Also macht er sich auf den Weg nach Deutschland.
[00:03:08] Anas Modamani Ich hatte nur in der Türkei in Google mal «Deutschland» geschrieben und die Bilder gesehen. Es hat mir sehr gut gefallen. Ich habe sehr viel Natur gesehen, wo es überall grün ist. Also ich hatte mir vorgestellt, dass es viel, viel, viel schöner aussieht.
[00:03:21] Sandra Sperber Gut, Sie haben wahrscheinlich die Bilder von irgendwelchen idyllischen Schlössern gesehen und sind in Berlin gelandet.
[00:03:27] Anas Modamani Direkt in Neukölln.
[00:03:29] Sandra Sperber Nach einigen Zwischenstopps in ganz Deutschland findet Anas einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Spandau. Zwei Tage nach seinem Einzug macht er das Selfie, das sein Leben verändern wird. Es ist der 10. September 2015.
[00:03:43] Anas Modamani An dem Tag, da sah alles so schön aus. Es war sauber. Es gab kostenlose Suppe, heiße Suppe. Es gab Süßigkeiten auf dem Tisch. Ich bin so überrascht. Ich hatte mir das vorgestellt. Oh mein Gott, dieses Flüchtlingsheim ist viel besser als die anderen, und ich habe gefragt: «Warum sieht alles so schick aus? Kommt heute jemand?» Die habe nicht verraten, wer kommen wird wegen der Sicherheit.
[00:04:07] Sandra Sperber Vor der Unterkunft steigt die Bundeskanzlerin aus einer schwarzen Limousine.
[00:04:13] Einspieler Frau Bundeskanzlerin, herzlich Willkommen bei der Arbeiterwohlfahrt.
[00:04:21] Sandra Sperber Sogar der Nachrichtensender N24 berichtet live von Angela Merkels Besuch.
[00:04:26] Einspieler Ja, sie ist nicht nur vorbeigerauscht, sondern es gab ja eine kleine Planänderungen, denn eigentlich wollte sie dort hinten den Hintereingang nehmen und wir hören hier jetzt tatsächlich auch den Jubel der Flüchtlinge.
[00:04:37] Sandra Sperber Anas sieht die Besucherin, weiß jedoch immer noch nicht, wer sie ist. Aber er fotografiert gerne und macht sein Smartphone selfiebereit.
[00:04:46] Anas Modamani Sie kam raus aus dem schwarzen Auto. Da ist Bodybuilder, Sicherheitsleute überall. Ich habe versucht, das Selfie machen. Die haben mich gestoppt, dass ich das nicht machen darf. Und sie hat das gemerkt, dass ich so ein Dickopf bin und das unbedingt machen will. Und dann hat sie Bescheid gesagt: «Lasst ihn Fotos machen, das ist absolut kein Problem.» Und ich war so froh, dass ich meine Hand auf ihre Schulter, sie umarmt habe und ein Foto gemacht habe.
[00:05:12] Sandra Sperber Da wussten Sie aber dann, dass es die Kanzlerin ist.
[00:05:14] Anas Modamani Immer noch nicht.
[00:05:16] Sandra Sperber Immer noch nicht? Sie haben einfach ein Foto mit der Frau gemacht, die da zu Besuch war?
[00:05:16] Anas Modamani Ich dachte, Schauspieler, irgendjemand, der berühmt ist? Ich mache jetzt einfach ein Foto. Zehn Minuten später habe ich erfahren, dass sie Frau Merkel ist, dass sie die Bundeskanzlerin von Deutschland ist. Ich war so froh, ich habe das an meine Eltern geschickt, an Freunde geschickt, sogar auf meinem Profilebild in Facebook.
[00:05:35] Sandra Sperber Das heißt, Sie hatten anfangs das Gefühl hier in Deutschland: «Super Stimmung — wir sind willkommen, das ist ein Ort, wo ich gerne leben will»?
[00:05:42] Anas Modamani Genau. Also am Anfang wirklich war es so schön. Die Leute haben mir in Facebook geschrieben: «Hey, wir haben dein Bild gesehen, wir freuen uns, dass du in Sicherheit jetzt lebst und komm mal vorbei, Kaffee trinken und so weiter.» Ich habe angefangen, Deutsch zu lernen. Es gab jemanden, der mich privat unterrichtet hat, kostenlos, einfach so, weil ich so jung war. Ich fand es riesig, dass man so dieses Vertrauen, das zwischen den Leuten so schnell anfangen kann. Am Anfang war es so, jetzt hat es sich komplett verändert.
[00:06:13] Sandra Sperber Wie sich aus Anas Sicht die Stimmung in Deutschland geändert hat und warum das Selfie plötzlich zum Problem wurde, hören wir gleich. Vorher möchte ich meine Kollegin Katrin Elger dazu holen. Sie schreibt für den SPIEGEL regelmäßig über Integrationsthemen und hat kürzlich in einem Text Bilanz gezogen, was in den vergangenen fünf Jahren, seitdem Merkel-Selfie und ihrem Satz «Wir schaffen das» passiert ist.
[00:06:35] Katrin Elger Als Merkel diesen Satz sagte, das klang fast so ein bisschen leicht dahergesagt.
[00:06:38] Angela Merkel Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.
[00:06:45] Katrin Elger Es hörte sich dann fast so an — auch wenn man sich das so rückblickend anhört -, als wäre das nicht so eine große Leistung: «Deutschland hat schon ganz viel geschafft, und ja, dann schaffen wir das auch mit den Flüchtlingen so. Also, wenn sich alle ein bisschen reinhängen, dann klappt das schon.» Und da hat sie, glaube ich, die Stimmung in vielen Teilen der Bevölkerung nicht getroffen. Da fing dieses Missverständnis an, dass manche Leute wohl dachten: «Ja was denkt sie eigentlich? Sie mutet diesem Land so viel zu. Es kommen so viele Menschen, ohne dass man uns, die Deutschen, gefragt hat. Und dann soll es auch noch leicht gehen, dass wir hier mehr als eine Million Menschen einfach mal so schnell integrieren und das auch noch aus einem anderen Kulturkreis.»
[00:07:24] Sandra Sperber Wenn man sich erinnert, waren ja da im Sommer 2015 tatsächlich sehr viele Deutsche den Flüchtlingen positiv gegenüber eingestellt oder jedenfalls die, die es skeptischer gesehen haben, sind nicht so in Erscheinung getreten damals.
[00:07:37] Katrin Elger Das war ja auch medial eine große Willkommenskultur, und man hatte diese Bilder von syrischen Familien, die im Elend lebten, diese überfüllten Schlauchboote, Meldungen über Ertrinkende im Mittelmeer, dann dieser Flüchtlingsjunge Alan Kurdi am Strand in der Türkei, der angespült worden war. Man wollte helfen. Viele wollten das, diese Menschen willkommen heißen.
[00:08:02] Sandra Sperber Wann ist in Deutschland so die gefühlte Stimmung umgeschlagen?
[00:08:05] Katrin Elger Silvester 2015/16 war der absolute Wendepunkt. Das war ja für alle unfassbar, was da passiert ist am Kölner Hauptbahnhof.
[00:08:13] Einspieler Silvester, kurz vor Mitternacht am Kölner Hauptbahnhof: offenbar gezielt werden Feuerwerkskörper in die Menge abgefeuert.
[00:08:20] Einspieler Zeugen hatten von arabisch-nordafrikanisch aussehenden Männern berichtet.
[00:08:24] Einspieler Frauen werden eingekreist, beklaut und sexuell belästigt. Sogar von einer Vergewaltigung ist die Rede.
[00:08:30] Einspieler Diese Gruppendynamik, die sich da gebildet hat, das war, glaube ich, das war für ganz Deutschland ein Schock. Auch für die Leute — ich sage jetzt mal -, die am Hauptbahnhof in München standen und klatschten, als die Flüchtlinge kamen. Auch für die war das ein Schockerlebnis, dass so etwas überhaupt passieren kann. Ja, das war der Wendepunkt. Da bekam die AfD auch sehr viel mehr Rückhalt als zuvor.
[00:08:51] Sandra Sperber Da wurde vielleicht dieses Unwohlsein, was manche schon länger hatten — schon seit dem Sommer hatten — auf einmal deutlicher publik und lauter.
[00:08:59] Katrin Elger Ja, das war dann für viele quasi der Beleg dafür, dass das ein Fehler war, die Flüchtlingspolitik.
[00:09:06] Sandra Sperber Bevor wir hören, wie Anas diese Veränderung wahrgenommen hat, kommt jetzt erst mal kurz ein Hinweis von unserem Sponsor für diese Podcast-Folge: Clark.
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[00:09:55] Sandra Sperber Auch Anas Modamani spürt gut ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Deutschland, dass sich etwas ändert. Auf Facebook bekommt er plötzlich Hassnachrichten.
[00:10:04] Anas Modamani Auf einmal hatte ich die Kommentare gekriegt: «Verpiss dich!»; «Geh zurück in dein Heimatland!»; dass ich ein Terrorist bin; «Du sollst sterben, du sollst im Gefängnis landen.»
[00:10:14] Sandra Sperber Kurz zuvor, am 22. März 2016, hatten in Brüssel drei Terroristen Selbstmordattentate verübt. Bei den Anschlägen auf einen U-Bahnhof und den Flughafen kamen 32 Menschen und die drei Attentäter ums Leben. Im Netz taucht Anas Bild neben einem Fahndungsfoto eines Täters auf. Eine Facebook-Seite namens Anonymous.Kollektiv behauptet, das Selfie mit Angela Merkel zeige einen der Brüsseler Terroristen.
[00:10:41] Anas Modamani Da war ich so überrascht und es hat mein Leben komplett verändert und ich hatte so viele Kommentare gekriegt an einem Tag, wo ich wirklich nicht wusste, was ich machen kann. Gehe ich zur Polizei? Für einer Woche war ich kaum draußen, weil ich Angst hatte.
[00:10:58] Sandra Sperber Weil sie so viele Nachrichten, Hassnachrichten bekommen haben?
[00:11:01] Anas Modamani Genau, also manche Leute habe ich mich bedroht sogar und die haben an die Geschichte geglaubt, dass ich ein Terrorist bin, dass ich Leute umgebracht habe. Was ich im Leben niemals tun werde.
[00:11:11] Sandra Sperber Es ist nicht das einzige Mal, dass rechte Hetzer das Bild der Kanzlerin mit dem jungen Syrer für ihren Hass missbrauchen. Immer wieder wird Anas als Krimineller oder Terrorist bezeichnet und an den digitalen Pranger gestellt. Zum Beispiel nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.
[00:11:28] Anas Modamani Also mein Name ist Anas und er heißt Anis Amri. Wir sehen so anders aus, und trotzdem haben die Leute das Gleiche gemacht. Mein Bild im Internet veröffentlicht und darauf geschrieben: «Das ist der gleiche junge Mann, der ein Selfie mit der Frau Merkel gemacht hat.»
[00:11:42] Sandra Sperber Ist aus diesem Hass im Internet auch einmal in der Realität etwas passiert?
[00:11:47] Anas Modamani Genau, so ist es. In der Realität ist es das, was mich noch trauriger gemacht hat, dass die Leute die Geschichte kennen und dass ich einmal, als ich mit der U-Bahn gefahren bin, eine Dame hat mich erkannt durch das Internet. Und sie meinte: «Bist du nicht der junge Mann, der Anschläge geplant hat?» Ich sagte: «Nein.» Sie war so aggressiv am Anfang. Und dann, fünf Minuten später, als ich die wahre Geschichte erzählt habe, hat sie sich ein bisschen erholt. Und als ich meinte, «Nein, das ist falsch.» Und das war so schwierig, diese wahre Geschichte zu erzählen, weil ich früher kein Deutsch gesprochen habe. Aber sie hat daran geglaubt, und das macht mich so sehr traurig. Und dann bin ich ausgestiegen und habe auf die nächste U-Bahn gewartet.
[00:12:29] Sandra Sperber Anas wird mehrfach von Leuten angesprochen, die das Merkel-Selfie von rechten Propagandaseiten kennen und glauben, er sei ein Terrorist. Der Syrer kontaktiert Facebook, versucht die Beiträge löschen zu lassen. Er nimmt sich sogar einen Anwalt und zieht gegen Facebook vor Gericht — Vergeblich. Das Landgericht Würzburg entscheidet, dass Facebook die Falschmeldungen nicht selbstständig suchen und löschen muss. Dass er das Selfie gemacht hat, bereut Anas nicht. Aber von der Willkommensstimmung, die ihn 2015 so begeistert hat, ist nicht mehr viel geblieben.
[00:13:03] Anas Modamani Ich war so überrascht, dass so viele Leute in Deutschland die Flüchtlinge hassen. Die Menschen haben sich verändert. Viele wählen leider AfD.
[00:13:13] Sandra Sperber Sie trotzdem heute noch gerne in Deutschland?
[00:13:16] Anas Modamani Auf jeden Fall. Ich wohne in Berlin. Ich liebe Berlin, ist meine zweite Heimat geworden. Ich bin sehr dankbar Frau Merkel, jeder Person, die mir geholfen hat.
[00:13:26] Sandra Sperber Inzwischen studiert Anas im dritten Semester, hat eine eigene Wohnung gefunden und ist mit seiner Freundin zusammengezogen. Er hat kürzlich sogar angefangen, in einem Supermarkt zu arbeiten, um in der Corona-Krise mit anzupacken. Anas Modamani hat es also geschafft und ist gut angekommen. Ich habe zum Schluss nochmal meine Kollegin Katrin Elger gefragt, wie ihre Bilanz ausfällt fünf Jahre nach dem historischen, «Wir schaffen das!» von Angela Merkel.
[00:13:51] Katrin Elger Rückblickend hatte Angela Merkel wirklich viel Glück, dass die Deutschen bereit waren, da so mitzugehen mit ihrer Politik. Jetzt mal ganz abgesehen von der AfD und dass sich auch viele Leute von ihr abgewandt haben. Aber es gab auch jede Menge Deutschen, die gesagt habe: «So, ich helfe!» — und das ging ja weit darüber hinaus. Am Anfang, ja, sehr viele Altkleider sortiert und haben gesagt: «Ich helfe hier mal so ein bisschen.» Aber viele Ehrenamtliche, die sind bis heute dabeigeblieben und machen, angefangen vom Deutschunterricht über diese ganzen bürokratischen Sachen und so. Das hätte der Staat nie leisten können. Und das hat die deutsche Gesellschaft gemacht. Da kann die Kanzlerin froh sein.
[00:14:29] Sandra Sperber Wenn man jetzt zurückblickt, ist man natürlich immer schlauer. Was waren damals in dieser Willkommenszeit 2015 die größten Fehler? Wo hat man wichtige Themen übersehen, war vielleicht zu gutgläubig?
[00:14:43] Katrin Elger Der Fehler war vielleicht, dass man nicht vorausgesehen hat, was da kommen würde, dass der Migrationsdruck steigt, dass dieser Bürgerkrieg in Syrien eine ganz andere Flüchtlingsdynamik in Gang setzen wird, als es vorher der Fall war. Das kann man der Politik vorwerfen, glaub ich, dass sie so überrumpelt wurde — das waren die Hauptfehler. Ich glaube, als es dann irgendwann mal losging und alle sagen: «Okay, wir haben hier jetzt viel, viel mehr Integrationskurse und hier die Kommunen sorgen für die Unterkünfte und so.» Da hat Deutschland dann funktioniert. So auf dieser Arbeitsebene ging das richtig gut. Aber natürlich ist das ein enormes Versagen, das die Regierung da überrumpelt wurde. Dieser Krieg war nicht plötzlich neu. Das war ja irgendwann mal der Punkt kommen, wo den Syrern klar war: «Hier wird nichts mehr gut. In Syrien haben wir für unsere Kinder keine Zukunft mehr, und wir müssen da weg.» Und dann ist natürlich bei so vielen Menschen der Migrationsdruck enorm.
[00:15:38] Sandra Sperber Da hat Angela Merkel damals schon ganz vorsichtig auch Probleme angedeutet.
[00:15:42] Angela Merkel Wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden, und der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun, zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen genau das durchzusetzen.
[00:15:54] Sandra Sperber Aber eigentlich hat sie gesagt: «Das lässt sich alles bewältigen.» Hat sie recht behalten? Haben wir es tatsächlich geschafft heute?
[00:16:01] Katrin Elger Wenn wir jetzt die reine Krise 2015 angucken, wo so viele Menschen kamen, die dann in Turnhallen schliefen und von denen keiner Deutsch konnte, und für die war Deutschland ja ein vollkommen neues Land. Wenn man sich anguckt, was ist da passiert, dann hat Deutschland natürlich sehr viel geschafft. Auch die Regierung, auch die deutsche Gesellschaft. Die Menschen schlafen nicht mehr in Turnhallen. Es hat nicht jeder eine eigene Wohnung gefunden, aber es gibt zumindest bessere Gemeinschaftsunterkünfte. Wenn man so alles zusammenrechnet, hatte — vor der Corona-Pandemie — fast jeder zweite Flüchtling eine Arbeit, wenn auch geringfügig bezahlt. Das sind alles so Sachen, haben Arbeitsmarktexperten gesagt: «Ja, nicht schlecht. Es läuft besser, als wir es vielleicht für möglich gehalten hätten.» Fünf Jahre sind auch nicht besonders lang, da hat Deutschland und auch die Geflüchteten selber haben wirklich sehr viel geschafft. Wenn wir uns jetzt aber als Gesellschaft angucken, dann haben wir es noch lange nicht geschafft. Das sieht man ja schon allein an diesen Debatten zum Thema Rassismus. Da sind so viele Spannungen drauf, und das ist ja erst eine Aufgabe, die uns bevorsteht. Wie wird das? Das ist jetzt die erste Generation der Syrer, die eingewandert ist, aber was ist mit denen, die hier geboren sind? Wie kommen wir hier alle zusammen klar? Wie schafft Deutschland es, ein multireligiöses und multiethnisches Land zu werden? So wird es ja irgendwann mal sein.
[00:17:18] Sandra Sperber Also das haben ja noch längst nicht alle so akzeptiert, würde ich sagen.
[00:17:21] Katrin Elger Nee, ganz sicher nicht. Da gibt’s natürlich auch ganz viel Widerstand dagegen, aber das zeigen einem schon allein die Zahlen. Es gibt einfach sehr viele Einwanderer, und Deutschland verändert sich und das stellt so eine Gesellschaft natürlich auf die Probe. Und das ist aber ja eine ganz andere Ebene als die Frage: «Wie viele haben jetzt eine Ausbildung?» — Das ist vielleicht die Grundlage dafür, aber da kommt natürlich noch ganz viel. Und Angela Merkel muss sich in fünf Jahren noch einmal fragen, nach zehn Jahren werden wir alle fragen, «Haben wir es jetzt geschafft?» Und nach 20 und wahrscheinlich auch nach 30 noch — das wird lange nachhallen. Das war ein irres Jahr 2015. Man konnte wirklich, ja, Geschichte erleben, wie jetzt in unserer neueren Zeit selten, finde ich, in Deutschland — 2015 war irre!
[00:18:08] Sandra Sperber Danke, Katrin. Das war sicherlich auch nicht das letzte Mal, dass uns der Flüchtlingssommer 2015 in diesem Podcast beschäftigt hat. Ich habe übrigens auch ein Selfie mit Anas gemacht. Das habe ich auf meinem Instagram-Account gepostet. Da gibt’s jetzt auch immer wieder einen Blick hinter die Kulissen der Podcast-Produktion — zu finden unter dem Handle @sperbers auf Instagram. Für eine der nächsten Folgen würden wir gerne von Schülerinnen und Schülern oder von Lehrern hören. Uns interessiert, wie sie den Corona-Alltag an Schulen erleben. Funktionieren die Hygienemaßnahmen? Oder hätten sie sich für den Regelbetrieb nach den Ferien bessere Konzepte gewünscht? Haben Sie Sorge, dass angesichts der steigenden Zahlen bald der nächste Schullockdown ansteht? Wir würden uns freuen, wenn sie uns dazu eine Sprachnachricht schicken an unsere WhatsApp-Nummer 040 380 80 400. Diese Nummer kann man auch anrufen und eine Nachricht auf unserer Mailbox hinterlassen. Nochmal 040 380 80 400. Oder Sie können uns auch eine Mail an stimmenfang@spiegel.de schreiben. Die Mailadresse und die Telefonnummer stehen auch in den Shownotes zu diesem Podcast. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören. Die nächste Stimmenfang-Folge gibt’s wie immer kommenden Donnerstag auf spiegel.de, auf Spotify, bei Apple Podcasts und in allen üblichen Podcast-Apps. Ich bin Sandra Sperber, und bei der Produktion wurde ich diese Woche unterstützt von Philipp Fackler, Charlotte Meyer-Hamme, Johannes Kückens, Matthias Streitz, Philipp Wittrock und Yasemin Yüksel. Unsere Stimmenfang Musik kommt von Davide Russo.
Source: spiegel.de
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