Seine Chefs schrien ihn per Funk an, er solle auf den letzten Kilometern keine Risiken mehr eingehen. Und da wusste Tao Geoghegan Hart wohl schon, dass er es schaffen würde. Dass er, der doch eigentlich nur als Helfer angetreten war, diesen ungewöhnlichen Giro d’Italia gewinnen würde. Kurz darauf schoss er auf seiner Zeitfahrmaschine über die Ziellinie neben dem Mailänder Dom. Doch erst als Konkurrent Jai Hindley im Ziel ankam, 39 Sekunden langsamer als er, ballte Geoghegan Hart die Faust und nahm die ersten Glückwünsche entgegen. Seine Freundin Hannah Barnes, ebenfalls Radprofi, war extra angereist.
Als der Giro d’Italia Anfang Oktober startete, mit den ehemaligen Tour-de-France-Siegern Geraint Thomas und Vincenzo Nibali oder Spitzenfahrern wie Simon Yates und Steven Kruijswijk, da war noch nicht ansatzweise abzusehen gewesen, wie diese Rundfahrt in Mailand enden würde. Hindley und Geoghegan Hart, zwei Außenseiter, trennten vor dem abschließenden Zeitfahren nur 0,86 Sekunden. Das Finale wurde zum Duell der Schattenmänner, zum Duell zweier Fahrer, die beide eigentlich nur in Helferrollen eingeplant waren.
Dass der 25 Jahre alte Tao Geoghegan Hart (gesprochen Tayo Gaygan Hart) sich nun Giro-Sieger nennen darf, ist eine Überraschung, aber eine, die sich erklären lässt. Die Favoriten waren zu Beginn des Giro andere Fahrer: sein Kapitän Thomas etwa. Doch der brach sich bei einem Sturz auf der dritten Etappe das Becken und musste aufgeben. Team Ineos warf seine gesamte Rennstrategie über den Haufen. Kurz darauf stiegen Yates und Kruijswijk samt ihrer Teams wegen positiver Corona-Tests aus. Es zeichnete sich ab, dass auf dieser Rundfahrt ein Außenseiter triumphieren könnte. Ein Fahrer mit Talent für Rundfahrten, der gut klettert und ein robuster Zeitfahrer ist. Eben jemand wie Geoghegan Hart.
«Nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich mir das vorstellen können, als wir vor fast einem Monat auf Sizilien gestartet sind», sagte Geoghegan Hart nun in Mailand: «In meiner ganzen Karriere habe ich davon geträumt, einmal unter den besten Zehn oder vielleicht sogar Fünf in einem solchen Rennen zu landen.»
Mit Kopf und Kraft zum Profi
Schon als Teenager galt der gebürtiger Londoner als eines der größten Talente des britischen Radsports. 2015 probierte er sich bei Team Sky, heute Ineos, aus. Sogar die Schule soll er mal für das Training geschwänzt haben. Dann aber blieb er lieber noch zwei Jahre bei einem kleineren Team, um Erfahrung zu sammeln. Ein weiser Entschluss, denn der Sprung vom Talent zum Sky-Profi dürfte ähnlich schwierig gewesen sein, wie im Fußball der Weg vom Jugendteam zum Stammspieler des FC Bayern München. Kürzlich sagte sein ehemaliger Jugendtrainer Stuart Blunt dem «Daily Telegraph», Geoghegan Hart sei nun «ganz oben. Nicht nur seine körperlichen Fähigkeiten, sondern auch seine Einstellung und sein Einsatz. Er ist sehr besonnen.»
Kraft und Kopf haben Geoghegan Hart geholfen, den Sprung zu schaffen. Seit vier Jahren ist er Profi bei Team Ineos, mittlerweile wohnt er wegen der besseren Trainingsbedingungen in Andorra. Angesichts seines großen Talents stand aber auch die Frage im Raum, wann er für Ineos Rennsiege holen könnte. Ein Vorbeikommen an den Kapitänen Thomas, Christopher Froome und Egan Bernal, alles ehemalige Tour-Sieger, schien kaum möglich. Nun bekam Geoghegan Hart beim Giro die unerwartete Chance, aus dem Schatten seiner Chefs zu treten — und nutzte sie.
Ineos Teamchef Dave Brailsford erklärte bei Eurosport, nach dem Aus von Thomas habe er das Rennen für den Rest des Teams geöffnet. Die Fahrer waren nun freier, durften selbst um Etappensiege fahren. Geoghegan Hart sollte versuchen, den Giro-Favoriten zu folgen. «Ich denke, er mochte das», sagte Brailsford: «Er ist in die Rolle hineingewachsen.»
Geoghegan Hart gewann die Bergetappe nach Piancavallo, noch im Endspurt zog er seine Sonnenbrille ab. Der ehemalige Tour-Sieger Bradley Wiggins nannte ihn daraufhin einen «Typen». Und Jugendtrainer Blunt stimmte zu: «Tao ist ein netter Kerl, aber er ist auch ziemlich clever. Er hat Charakter.» Auch die 20. Etappe gewann der 25-Jährige und brachte sich als ordentlicher Zeitfahrer in eine gute Position für den Giro-Sieg, den größten Erfolg seiner bisherigen Karriere.
Die Rettung der Saison
Womöglich hat ausgerechnet Geoghegan Hart damit Team Ineos die Saison gerettet, der Triumph beim Giro könnte der einzige Grand-Tour-Sieg in diesem Jahr sein. Hinzu kommen aber auch überragende sieben Etappensiege der Briten sowie der Gewinn der Teamwertung, selten war eine Mannschaft bei einer Grand Tour erfolgreicher.
Eigentlich als kühler Analytiker bekannt, wirkte Teamchef Brailsford fast schon euphorisch. Froome und Thomas hatte der 56-Jährige mit einer defensiven, das Peloton dominierenden Strategie zu fünf Tour-Siegen geführt. Jahrelang sorgte der Ineos-Zug an der Spitze der Rennen für Langeweile im Radsport. Nun genoss Brailsford den aufregenden Giro. «Wir haben den Zug gemacht, den defensiven Fahrstil. Wir haben damit viel gewonnen, aber es macht im Vergleich hierzu nicht so viel Spaß», sagte er Eurosport: «In diesem Sport geht es um die Rennen, um die Emotionen, die aufregenden Momente, und genau das wollen wir erreichen.»
Das klingt so, als erwäge Brailsford, das Team Ineos strategisch völlig umzukrempeln. Wichtige Transfers für das kommende Jahr hat er schon getätigt. Nun bietet sich mit Geoghegan Hart ein weiterer Fahrer als kommender Kapitän an. Ob er künftig im Rampenlicht bleibt, wird sich zeigen.
Kurz nach dem Giro-Sieg wurde Geoghegan Hart gefragt, ob das der Beginn einer großen Karriere sei. Er antwortete: «Ich weiß es nicht und es interessiert mich nicht wirklich. Ich werde das einfach genießen.»
Source: spiegel.de
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