Vor sechs Jahren in Brasilien, als Philipp Lahm den WM-Pokal in den Abendhimmel von Rio hielt, war die Welt noch klar geordnet. Der Vater des Sieges hieß Joachim Löw, und Hans-Dieter Flick, genannt Hansi, war der Assistent. Der zwar im Campo Bahia mit der Aktenmappe durch die Gegend lief, in der alle wichtigen taktischen Details festgelegt waren, der aber die Rolle des Chefs klaglos Löw überließ.
Mittlerweile sind die Hierarchien etwas unübersichtlicher geworden. Flick hat als Trainer des FC Bayern in zehn Monaten im Job drei Titel geholt, mit der Champions League als Sahnehaube, in dieser Zeit hat Löw gezwungenermaßen kein einziges Spiel absolviert und sie weitgehend damit verbracht, daheim im Badischen Fußball im Fernsehen zu gucken. Heute schreibt der «Stern» von «Hansi dem Großen», die «Bild» jubelt: «Flick kann auch Bundestrainer», und die «FAZ» rät patriarchal: «Wenn Joachim Löw sich auf die EM vorbereitet, sollte er sich an Hansi Flick orientieren.»
Man könnte denken, es habe inzwischen einen Rollentausch gegeben, und Löw sei heute der neue Flick-Assistent.
Ab diesem Abend kann der real existierende Bundestrainer wieder einen Arbeits- und Befähigungsnachweis bringen, wenn er mit monatelanger Verspätung gegen Spanien ins Länderspieljahr 2020 einsteigt (20.45 Uhr; TV: ZDF; Liveticker SPIEGEL.de). Möglicherweise werden dann die Flick-Elogen für ein paar Tage leiser werden. Wenn es gegen Spanien und die Schweiz, keine Laufkundschaft in Europas Fußball, allerdings nicht so gut klappen sollte, wird es sicherlich jemanden geben, der das «Flick kann auch Bundestrainer» noch einmal aufs Tapet bringt.
Erst seit zehn Monaten in der Verantwortung
Der Überschwang eines Champions-League-Sieges hat den Bayern-Coach als Lichtgestalt erscheinen lassen, allerdings ist Flick tatsächlich erst seit zehn Monaten in seinem Trainerleben Verantwortlicher einer Spitzenmannschaft, es waren ausgesprochen gute zehn Monate, aber es waren eben auch nur zehn Monate. Flick musste noch keine Krise moderieren, er hatte bisher wenig Gelegenheit, den Umgang mit Niederlagen zu üben. All das, was zu bewältigen auch große Trainer ausmacht. Bislang war er der König Midas, dem alles, was er anfasste, zu Gold wurde. Das ist kein Vorwurf.
Löw dagegen hat bereits Täler durchschritten, und nicht nur eines. 2012 nach dem jähen Halbfinal-Aus gegen Italien wurde ihm bereits der Rücktritt nahegelegt, nach dem Desaster der WM 2018 schien der Abgang sogar unvermeidlich. Aber er ist immer noch da, und sein Team zählt, relativ runderneuert und verjüngt, nicht zuletzt wegen der Verschiebung der EM aufs kommende Jahr schon wieder zu den Titel-Favoriten. Er hat wieder eine erkleckliche Anzahl hochtalentierter und bestens ausgebildeter junger Spieler zur Verfügung, das ist nicht unbedingt das Verdienst von Joachim Löw, aber es scheint, als gelinge ihm der Turnaround.
Die Nationalmannschaft und der FC Bayern — das ist immer eine besondere Beziehung gewesen, eine von Nähe und Distanz, von Konkurrenz und Kongruenz. Eine Beziehung, die sich in den meisten Fällen gegenseitig befruchtet hat. Löw hat Joshua Kimmich früh mit der zentralen Rolle im Mittelfeld betraut, der Verein hat nachgezogen, auch bei den Positionswechseln von Lahm und Bastian Schweinsteiger von außen nach innen gab es solche Wechselwirkungen zwischen Löw und den Bayern. Jetzt ist sein früherer Assistent der Cheftrainer an der Säbener Straße. Das macht das Binnenverhältnis nicht zwingend leichter. Erstmals werden beide auf Augenhöhe wahrgenommen.
Wer ist der Mastermind?
Als Löw selbst noch Co-Trainer war, hieß es, er sei der Mastermind hinter der Sommermärchen-Elf von Jürgen Klinsmann gewesen. Klinsmann leuchtete, Löw ließ ihn leuchten. Mittlerweile wird in der Rückschau Ähnliches über 2014 erzählt. Löw war der Strahlemann, aber Flick sei derjenige gewesen, der im Hintergrund die Weichen gestellt habe. Als Indiz dafür gilt die Geschichte, dass Löw nach dem rumpeligen Achtelfinale gegen Algerien Per Mertesacker mitgeteilt hatte, dass er nicht mehr zur Startelf gehöre. Als es darum ging, dem aufgebrachten Mertesacker zu beschwichtigen, ihm die Entscheidung zu erklären, soll Löw Flick das Wort überlassen haben.
Das ist allerdings lediglich eine Anekdote, die viel darüber aussagt, wie Löw mit unangenehmen Situationen umgeht. Weniger darüber, wer die Strippen zum WM-Erfolg zog. Löw war und ist letztlich zu eigenwillig, zu fokussiert, manche sagen auch zu entrückt, um die wichtigen Entscheidungen anderen zu überlassen. Löw und Flick funktionierten als Team, aber der Bundestrainer hat sich das letzte Wort immer vorbehalten. Flick, dessen vielleicht größte Qualität es ist, sein Ego hintenanzustellen und andere wirken zu lassen, mögen sie Joachim Löw oder Robert Lewandowski heißen, hat diese Rollenaufteilung beim DFB stets akzeptiert.
Mit Thomas Tuchel, Julian Nagelsmann, Jürgen Klopp und Flick sind deutsche Vereinstrainer momentan auch international schwer angesagt, sie alle hätten wahrscheinlich auch das Zeug, eine Nationalmannschaft zu führen. Noch ist Flick von den vieren der mit der wenigsten Erfahrung, aber der Vertrag des Bundestrainers läuft ja auch noch bis 2022.
In einem Interview mit der «Zeit» hat Flick 2018 im Vorfeld der WM gesagt: «Jogi Löw ist ein Frontmann.» Flick ist das nicht. Bisher war das sein Erfolgsrezept.
Source: spiegel.de
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