Im Gerichtssaal zu Pezinok bei Bratislava haben sich alle zu erheben, wenn die Richter ein Urteil verkünden. Doch am Donnerstag, als die Kammer ihr Verdikt im wohl spektakulärsten Kriminalfall des Landes seit 1989 sprach, hielt einer nicht durch: Der Vater des ermordeten Investigativjournalisten Ján Kuciak sackte bei der Urteilsverkündung zusammen, bat um ein Glas Wasser. «Nicht schuldig», lautete die Entscheidung der Kammer.
Márian Kocner, einem zwielichtigen Geschäftsmann, der seit zwei Jahren schon als Auftraggeber des Anschlages gilt, und seiner Helfershelferin Alena Zsuzsova konnte die Tat nicht nachgewiesen werden. Lediglich ein ehemaliger Polizist aus dem Umfeld wurde wegen Mittäterschaft und einem anderen Mord zu 25 Jahren Haft verurteilt.
Das Urteil kam überraschend — und es ist ein Meilenstein in der Geschichte der Slowakei. Das Land galt als vorbildlich im Vergleich zu anderen osteuropäischen EU-Staaten: schneller demokratischer Wandel, friedliche Trennung von Tschechien, Investitionen vor allem aus der Autoindustrie, Flattax, Euro schon 2009. Doch hinter der Fassade taten sich Abgründe auf. Der Mord an Ján Kuciak und seiner Verlobten im Februar 2018 warf ein Schlaglicht auf die verrotteten politischen Verhältnisse im Land. Dass der Hauptverdächtige nun freigesprochen wurde, ist ein schwerer Schlag für alle, die auf Reformen hofften.
Der 11. September 2001 der Slowakei
Die Schüsse auf Kuciak und Martina Kusnírová haben das kleine Karpatenland erschüttert, ähnlich wie einst die halbe Welt über die Terroranschläge vom 11. September 2001 schockiert war: Viele Slowaken wissen noch heute, wo sie gerade waren, was sie gerade taten, als die Nachricht vom Mord kam. Und: Das Attentat deckte auf, wie gefährdet Demokratie und Rechtsstaat auch 30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch sind.
Der Killer, der an jenem Februarabend die tödlichen Kugeln im Haus des Paares abfeuerte, wurde schnell gefasst und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Doch im Laufe der Ermittlungen geriet schnell Marián Kočner ins Visier. Der Mann ist vor allem mit zwielichtigen Immobiliengeschäften reich geworden. Er kannte Kuciak, denn der Reporter schrieb immer wieder furchtlos über die Verbindungen, die Kočner wohl zur italienischen Mafia unterhielt.
Besondere Sprengkraft gewann der Fall, weil im Zuge der Ermittlungen aufflog, dass Kočner eng mit Politik und Justiz verbandelt war. So hatte er offenbar Zugang zum Umfeld des damaligen Regierungschefs Robert Fico, er kontrollierte Richter und Polizisten, über deren Privatleben er belastendes Material sammelte. Eine Staatssekretärin im Justizministerium nannte er in Chats «mein Äffchen». 13 Richter wurden im März wegen Bestechlichkeit festgenommen.
Aus Protest gegen das korrupte Netzwerk aus Politik, Business und Halbwelt waren Hunderttausende Slowaken in Bratislava und anderen Städten auf die Straße gegangen, ihre Parole: «Für eine anständige Slowakei.» Fico musste schließlich zurücktreten. Die Präsidentenwahl 2019 gewann überraschend die Bürgerrechtsanwältin Zuzana Caputová, ein aus den Protesten hervorgegangenes Parteienbündnis holte bei der Europawahl einen deutlichen Sieg. Und in diesem Frühjahr wurde Igor Matovic Premier, ein Politiker, der verspricht, den Filz auszukämmen.
Aus Mangel an Beweisen
Ein Urteil gegen Kočner wäre ein wichtiger Etappensieg im Kampf gegen die Vetternwirtschaft gewesen, die sich nach dem Ende des Kommunismus herausgebildet hat und bis heute in etlichen Lebensbereichen zu spüren ist. Doch dazu ist es leider nicht gekommen.
Sie sei «geschockt», sagte Präsidentin Caputová, doch müsse man die Entscheidung zur Kenntnis nehmen. «Geschockt» ist auch der Innenminister, aber, so sagte er: Die Exekutive müsse die Entscheidungen der Judikative anerkennen.
Kočner ist, das zeichnet sich nach der Urteilsbegründung ab, nicht freigesprochen worden, weil das Gericht wirklich glaubt, er habe die Tat nicht begangen. Er wurde freigesprochen, weil sie ihm einfach nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Ein Rechtsstaat — der die Slowakei ja vor allem nach dem Kuciak-Mord sein will — muss im Zweifel für den Angeklagten entscheiden. Auch wenn die öffentliche Meinung das Urteil gänzlich ungerecht finden mag. Die Staatsanwaltschaft, die 25 Jahre Haft gefordert hatte, kündigte sogleich Berufung an: «Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg.» Slowakische Medien berichten über Konfusion, Überforderung, Streit und Missverständnisse im dreiköpfigen Richtergremium von Pezinok — sodass die Chance auf ein angemessenes Urteil vor dem Obersten Gericht vielleicht gut stehen.
Erschüttert äußerten sich die Angehörigen der Ermordeten: «Es ist offensichtlich, dass es in der Slowakei noch keine Gerechtigkeit gibt», sagte Zlatica Kusnírová, Mutter der ermordeten Kuciak-Verlobten: «Unsere Kinder ruhen in ihren Gräbern — und Kočner hat gut lachen.» Es dürfte sie kaum trösten, dass die Angeklagten vorerst dennoch nicht freikommen: Gegen Kočners Helferin wird im Zusammenhang mit etlichen anderen Morden ermittelt. Der Boss selbst ist allein wegen Finanzdelikten bereits zu 19 Jahren Haft verurteilt.
Source: spiegel.de
Комментариев нет:
Отправить комментарий