Album der Woche
Sevdaliza — «Shabrang»
Künstler und Künstlerinnen, die diese Zeit der Kontaktarmut für die innere Einkehr nutzen, gibt es viele. Aber was ist, wenn man die Phase der intensiven Selbstbeschäftigung schon hinter sich hat? Die Allroundkünstlerin Sevdaliza bezeichnete bereits ihr Debütalbum «Ison» vor zwei Jahren als Ergebnis einer kreativen Selbsttherapie.
Unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit nahm ihre intensive, in sich verrätselte Elektronikmusik ungeahnten Einfluss: Billie Eilish, der zurzeit wohl wirkmächtigste Teenager der Popwelt, nannte Sevdalizas seelen- und körpersezierende Ballade «Human» als Inspirationsquelle für ihren Hit «You Should See Me In A Crown».
Jetzt setzt sich die in Iran geborene und in den Niederlanden aufgewachsene Sängerin, Produzentin und Videokünstlerin mit ihrem zweiten Album selbst eine Krone auf. «Shabrang» ist ihr bisher zugänglichstes, zugleich aber auch erhabenstes Werk. Ein Spektakel der Klarheit und Stille.
Mehr als ein paar sinistre Dulcimer-Töne, dann ein bisschen Piano-Getupfe, synthetisches Rauschen und ein behutsames Streicher-Arrangement braucht es nicht, um «Joanna», den Eröffnungstrack, zu einer der besten Balladen des Jahres zu machen. Und natürlich Sevdalizas nur leicht mit Autotune verfremdeten Klagegesang, in dem sie eine Geliebte darum bittet, sie aus ihrem Bann zu entlassen: «Please stop ruining me, woman».
Man ahnt, dass diese Joanna ihre eigene, narzisstische Seite ist, von der sie sich befreien möchte, aber eben doch existenziell an ihr hängt. Solche Dilemmata der Ambiguität gibt es viele auf «Shabrang», aus ihnen zieht das Album bei aller Ruhe seine Spannung. Der Albumtitel ist aus der persischen Mythologie entliehen, man könnte ihn wohl mit «alle Farben der Nacht» übersetzen. Aus diesen Facetten von Dunkelheit holt Sevdaliza das Maximum an Gefühl heraus.
«Lamp Lady», ein fein in sich zusammenklackernder Trip-Hop, oder «Habibi», eine moderne R&B-Ballade, die an FKA Twigs erinnert, sind von hellen Pop-Momenten durchwirkt. «All Rivers At Once» scheint tatsächlich überzuquellen mit Ideen, jauchzender Fiddle, in psychedelische Orbits lasernde Space-Synthies, flatternder Perkussion, am Ende ein ungeduldiges Piano: Alles will, alles muss raus. Ans Licht. «Watch me dancing in the dark», singt Sevdaliza dazu, aber auch: «I don’t wanna feel pain/ Pour the light in me».
Sie habe die Songs schreiben müssen, um ihr Vertrauen und ihren Glauben an das Leben und die Liebe zurückzugewinnen, sagte sie in einem Interview, das Album ist als mahnender Brief an sie selbst zu verstehen, nicht in die Depression zurückzugleiten. «Is there anyone there/ To get me out of my head», singt sie, zum Flehen verzerrt, in «Habibi», dem arabischen Wort für Liebling.
Nicht alles berührt so unmittelbar. «Human Nature» geriet zu esoterisch, und «Darkest Hour» gibt die spannungsreiche Stimmung des Albums für einen allzu eindeutigen Dancetrack auf. «It’s a perfect world, I’m the perfect girl», beschwört sie sich darin.
Aber gerade die Abwesenheit von Perfektion, die oft fragil wirkende Offenheit der Kompositionen und Stimmungen auch für deutlichere Einflüsse iranischer Musik macht «Shabrang» zu einem Ereignis.
Das blaue Auge auf dem Cover-Motiv stammt übrigens nicht von einer Misshandlung, wie man denken könnte, es symbolisiere vielmehr das Muster ihrer seelischen Wunden, die sie in den vergangenen Jahren erforscht habe. Die Schönheit eines nachlassenden Schmerzes. (8.7)
Kurz Abgehört:
Sophie Hunger — «Halluzinationen»
Es gibt nichts, was die in Berlin lebende Schweizerin Sophie Hunger nicht kann, außer Langweilen: Elektropop, kluge Chansons, Krautrock — all das findet sich auf diesem intensiven, live eingespielten Soloalbum über Kreativität und Einsamkeit. «I’m the one who makes the music», trotzt sie dem toxischen «Alpha Venom» in einem Song. Superheldin. (8.5)
Joy Denalane — «Let Yourself Be Loved»
Logisch, dass die beste Soul-Sängerin des Landes nun die erste deutsche Künstlerin ist, die ein Album auf dem legendären Motown-Label veröffentlichen darf: Mal schmachtender, mal druckvoller Vintage-Soul über die Sehnsucht nach Liebe — befeuert von dem Schmerz der Ausgrenzung, den die Berlinerin als schwarze Frau in Deutschland erlebt. (7.5)
Bill Callahan — «Gold Record»
«Hello, I’m Johnny Cash», so beginnt das 18. Album des US-Folksängers Bill Callahan. Ein Witz, klar, aber man ahnt: Der in der Szene geliebte Kauz mit der bedächtigen Baritonstimme hofft, endlich dieselbe Anerkennung wie die ganz Großen zu erfahren: Cash, Cooder, Cohen. Werden alle amüsant herbeizitiert in Callahans überraschend warmherziger Knarzerei. Goldig! (8.0)
Matthias Schweighöfer — «Hobby»
Fairerweise muss man sagen, dass der singende Schauspieler Schweighöfer seine Kritiker im schönen, selbstreflexiven Stück «Anfang» gleich ausbremst. Smart move! Leider gibt’s aber noch 14 weitere Songs: Generischer, deutscher Befindlichkeitspopschlager, von dem es schon viel zu viel gibt. Manche Hobbys müssen kein Beruf werden. (2.0)
Wertung: Von «0» (absolutes Desaster) bis «10» (absoluter Klassiker)
Mittwochs um 23 Uhr gibt es beim Hamburger Web-Radio ByteFM ein Abgehört-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte.
Source: spiegel.de
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