Indiens Ampelmännchen haben eine Geschlechtsumwandlung hinter sich. Viele der Silhouetten, die Menschen in Mumbai an Ampeln über die Straße winken, tragen nun plötzlich Röcke. Die Metropole ist die erste indische Stadt, die an 240 Ampelsystemen die männlichen durch weibliche Figuren ersetzt hat.
Es ist ein kleiner Schritt, der die Gleichstellung der Geschlechter vorantreiben soll, eine Geste, dass die Stadt allen gehört, auch Mädchen und Frauen — die sich im urbanen Dschungel oft wie Objekte, wie Freiwild fühlen.
Auch Elsa Marie D’Silva ist mit den Blicken, den grapschenden Händen, der Unsicherheit aufgewachsen, die für Frauen zum Alltag gehören: «Als junges Mädchen oder Frau wirst du angestarrt, in vollen Räumen oder Bussen hast du Angst, dass Männer dich anfassen, und während du die Straße entlangläufst, geben sie die ganze Zeit Kommentare über dich ab», sagt die Gründerin der Red Dot Foundation, die sexuelle Gewalt bekämpft.
Die Ampelfrau-Kampagne in Mumbai hält die 46-Jährige für ein gutes Zeichen: «Es ist eine wichtige Entwicklung, weil wir nicht genug über Frauen reden. Wir sehen nicht genug Symbole von Frauen, die ihnen Mut machen.»
Frauen spielen in Indiens Städten nur eine Nebenrolle, wenige Straßen, Gebäude und Sehenswürdigkeiten sind etwa nach prominenten Frauen benannt. D’Silva glaubt, dass Ampelfiguren, die die Stadtbewohner gleichermaßen repräsentieren, die Sensibilität für alle Geschlechter schärfen können — auch wenn die Ampelfrauen allein nicht ausreichen, damit Frauen sich im öffentlichen Raum wohl und sicher fühlen.
Von Männern für Männer gemacht
Die Sicherheit, die Frauen in einer Stadt oder einem Viertel empfinden, ist oft mit grundlegenden Aspekten wie dem Aufbau der Stadt oder dem Transportsystem verknüpft. Städte weltweit seien aber von Männern für Männer konstruiert, kritisiert Leslie Kern, Autorin von «Feminist City».
«Die Erfahrungen von Frauen im Stadtleben und ihre speziellen Bedürfnisse waren immer nur ein Nachgedanke, weil die meisten Stadtplaner und Politiker Männer waren und sind und sie nicht die gleichen Erfahrungen wie Frauen haben», sagt Kern, die als Professorin für Geografie, Umwelt sowie Frauen- und Geschlechterstudien an der kanadischen Mount Allison University forscht und lehrt.
Männer können es sich oft nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, jederzeit belästigt werden zu können, sich schwanger in öffentliche Verkehrsmittel zu quetschen und Kinder, Einkauf und Arbeit zu koordinieren.
Eine Trennung in Wohn-, Markt-, Geschäftsviertel oder Industriegebiete in Städten ignoriert den Alltag von Frauen, die häufig Beruf und andere Aufgaben wie Kinderbetreuung ausbalancieren müssen. Meist sind sie gezwungen, lange Wege zwischen Wohnungen, Kindergärten, Parkanlagen, Schulen, Dienstleistern wie Ärzten und Arbeitsplatz zurückzulegen.
Frauen sind zudem mehr als Männer auf öffentliche Transportmittel angewiesen — doch die bringen sie selten nahtlos von einem Ort zum anderen, was nicht nur Zeit kostet, sondern auch ihre Sicherheit beeinträchtigt. Städte investieren meist mehr in den Ausbau von zentralen Straßen statt in Fußwege und öffentliche Verkehrssysteme.
Auch Baumaßnahmen wie Unterführungen können zwar den Verkehr besser fließen lassen — für Frauen sind solche uneinsehbaren Tunnel aber unangenehm, bei sexuellen Übergriffen verwandeln sie sich in eine Falle. Ohne Aufzüge oder Rolltreppen sind sie zudem eine Barriere für Mütter mit Kinderwagen.
Als Kern in London lebte und mit ihrer Tochter schwanger wurde, verwandelte sich alles auf einmal in einen Hindernislauf: «Plötzlich schien mir die Stadt zu sagen: Du gehörst hier nicht hin», erinnert sie sich. «Du passt mit dem Kinderwagen nicht mehr in die öffentlichen Verkehrsmittel hinein, du kannst dich nicht mehr leicht durch die Stadt bewegen, und Menschen haben mich angesehen, als hätte ich im öffentlichen Raum nichts mehr zu suchen.»
Fehlende Aufzüge und Rolltreppen, aber auch Stufen, zu eng geschwungene Treppen, Drehtüren, steile Rolltreppen, enge Kurven, zu kleine öffentliche Toiletten, Plätze oder schmale Wege, auf denen sich viele Menschen bewegen und kein Raum für Kinderwagen bleibt, erschweren es Müttern, durch die Stadt zu navigieren.
Die feministische Stadt
Wie also könnte sie aussehen, eine faire Stadt? «Eine feministische Stadtplanung wäre eine, bei der die unbezahlte Care-Arbeit anerkannt und bezahlt wird und Bedürfnisse von Frauen im Design und auch bei Budgetentscheidungen berücksichtigt werden», sagt Kern. Städte, die Gender Mainstreaming betreiben, kalkulieren bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lebenssituationen von Frauen und Männern. Dazu zählt etwa der Ansatz, Frauen vor Bauvorhaben zu ihrer Situation und ihren Wünschen zu befragen.
Öffentliche Transportsysteme müssten Kern zufolge verändert und ausgebaut sowie mehr Wohnmöglichkeiten geschaffen werden — auch Alternativen zur traditionellen Kernfamilie. Co-Housing-Optionen, in der mehrere Alleinerziehende und Familien zusammenleben und viel kollektiven Raum teilen und sich etwa beim Kochen, bei der Kinderbetreuung und anderer Hausarbeit abwechseln, könnten Frauen entlasten.
Die feministische Stadt ist bisher noch eine Utopie, aber viele Städte weltweit experimentieren mit kleineren Interventionen, wie Toiletten für obdachlose Frauen, mobilen Teams gegen häusliche Gewalt oder eben Ampelfrauen. «Der Wandel zur feministischen Stadt wird nicht einfach von oben kommen, von Städteplanern und Politikern», glaubt Kern. Oft treiben Frauen, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen Veränderungen mit ihren Initiativen voran.
Gefährliche Orte
Die Kinderhilfsorganisation Plan International hat im Rahmen des Projekts «Safer Cities for Girls» Mädchen und Frauen in Großstädten wie Delhi, Kairo, Hanoi, Kampala oder Lima zu ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung, Diskriminierung und Gewalt befragt — und Ideen gesammelt, um die Städte sicherer zu machen.
Bei sogenannten Safety Walks liefen die Jugendlichen durch die Straßen ihrer Viertel, fotografierten gefährliche Orte und Probleme wie kaputte oder fehlende Straßenbeleuchtung oder öffentliche Toiletten, die sich nicht abschließen lassen, und markierten sie auf digitalen Karten. Die digitale Dokumentation soll dabei helfen, die Bevölkerung zu sensibilisieren, aber auch konkrete Veränderungen bei Polizei, Stadtverwaltung oder Regierungen einzufordern.
In den vergangenen Monaten hat die Organisation auch Mädchen und Frauen in deutschen Großstädten aufgefordert, ihre Erfahrungen zu teilen — auf der «Safer Cities Map» haben Teilnehmerinnen etwa unbeleuchtete Radwege oder Haltestellen sowie Treffpunkte von «zwielichtigen Männergruppen» markiert, die vor Banken, an öffentlichen Plätzen oder an S-Bahn-Stationen herumlungern.
Auch in Indien wäre es laut Elsa Maria D’Silva wichtig, das öffentliche Transportsystem umzugestalten, um die Stadt sicherer für Frauen zu machen. In Zügen und Bussen gebe es zwar mittlerweile spezielle Sitze und Abteile für Frauen — «aber außerhalb dieses segregierten Raums garantiert keiner für deine Sicherheit», sagt D’Silva.
Ende 2012 hatten mehrere Männer in Neu-Delhi eine junge Frau brutal vergewaltigt, die an ihren Verletzungen starb. Der Fall hatte damals eine landesweite Debatte über sexuelle Gewalt ausgelöst. Auch D’Silva wollte etwas tun — und gründete mit Freunden die Crowdsourcing-Plattform «Safecity» — um das Ausmaß sexueller Übergriffe zu dokumentieren und anzuprangern. Mädchen und Frauen haben seitdem mehr als 13.000 Geschichten beigesteuert, von Catcalling bis hin zu Vergewaltigungen.
Dort, wo die Daten auf Hotspots hindeuten, setzen D’Silva, ihr Team und die Betroffenen sich mit Behörden, Transportunternehmen, Polizei und auch Anwohnern zusammen und versuchen, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. In Workshops haben junge Frauen etwa Wandbilder an öffentlichen Toiletten, Straßen oder Schulen gemalt, wo es immer wieder Belästigungen gab.
Im vergangenen Jahr hat ihre Stiftung Tausende von Workshops veranstaltet, bei denen junge Frauen und Männer über schmerzhafte Erfahrungen gesprochen haben — und junge Männer lernen, dass ihre Belästigungen kein Spaß sind und sie aktiv gegen sexuelle Gewalt vorgehen müssen. Denn physische Veränderungen allein erschaffen noch keine Stadt, in der Mädchen und Frauen sich sicher fühlen.
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Source: spiegel.de
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