Bei der Anfahrt auf Kenosha heult das Handy plötzlich auf wie eine Sirene. Ein Fliegeralarm? Nein, nur eine Botschaft des örtlichen Sheriffs, der die Bevölkerung daran erinnert, dass ab sieben Uhr abends eine Ausgangssperre gilt.
Eine Fahrt durch die Stadt zeigt: Die Menschen halten sich weitgehend daran. Viele Straßen sind abgesperrt, die meisten Läden mit Holzbrettern verrammelt. Zumindest die, die nicht abgefackelt sind. «Hier leben Menschen», steht an einigen Häusern, eine verzweifelte Bitte, das Gebäude zu verschonen.
Kenosha, eine knappe Autostunde nördlich von Chicago gelegen, ist eine Stadt im Schockzustand. Hier ist innerhalb weniger Tage Gewalt von rechts, von links und von staatlicher Seite kulminiert. Zwei Menschen starben, zwei wurden schwer verletzt.
Einer davon ist Jacob Blake, ein junger Schwarzer, dem ein Polizist am Sonntag sieben Kugeln in den Rücken schoss. Blake hatte sich in seinen Wagen gebeugt, auf dessen Boden nach Behördenangaben ein Messer lag. Ob das der Grund für die Schüsse war, ist noch ungeklärt.
Ein 17-Jähriger erschießt zwei Menschen
Die anderen Opfer hat ein 17-Jähriger aus dem benachbarten Illinois auf dem Gewissen, der bewaffnet nach Kenosha geeilt war, um, so sagte er es, Geschäfte vor Plünderern zu schützen. Am Dienstagabend erschoss er zwei Menschen und verletzte einen weiteren schwer. Er ist inzwischen des zweifachen Mordes und des unerlaubten Waffenbesitzes angeklagt.
Der junge Mann war nach ersten Ermittlungen ein glühender Fan der Polizei und ein Waffennarr. Seine Anwälte machen Notwehr geltend.
Mittlerweile ist die Nationalgarde in die Stadt eingerückt. Die vergangenen beiden Nächte waren ruhig. Die Toten haben alle Seiten für einen Moment zur Besinnung gebracht.
Die Milizionäre sind bislang nicht wieder aufgetaucht. Vor «Lou Perrine's Gas & Grocery» schützt ein quer gestellter Lastwagen die Glasfassade. Drei junge Männer halten dort Wache, aber sie tragen keine Waffen.
Es ist nicht einfach, am Donnerstagabend (Ortszeit) überhaupt Demonstranten zu finden. In einer Straße, in der saurer Brandgeruch aus Ruinen herüberweht, grillt eine Gruppe schwarz gekleideter Männer und Frauen Würstchen. Sie sind mit Baseballschlägern bewaffnet und schauen immer wieder nervös um die Ecke, wobei nicht ganz klar ist, vor wem sie auf der Hut sind. Mit Journalisten wollen sie nicht sprechen.
Schließlich bietet Mike, ein junger Schwarzer mit Megafon, an, mich zum Protestzug zu führen. Er habe seit Sonntag jeden Tag demonstriert, sagt er. Das Ganze sein ein einziger Mist, von vorn bis hinten.
Die Gewalt der Protestler hat ihn erschüttert. Einem älteren Herrn, der die Plünderung eines Matratzenlagers mit einem Feuerlöscher verhindert wollte, habe ein Demonstrant mit der Faust so ins Gesicht geschlagen, dass ihm der Kiefer brach. «Einen alten Mann schlagen — wer macht so etwas?», fragt Mike.
Gleichzeitig sei es so, dass sich niemand dafür interessiere, wenn sie friedlich demonstrierten. «Dann ändert sich nichts, und es muss sich etwas ändern», sagt er.
Es ist das Dilemma, vor dem die Black-Lives-Matter-Bewegung insgesamt steht:
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Erst seitdem in den großen Städten Zehntausende auch mit Gewalt gegen Rassismus und Polizeibrutalität demonstrieren, nimmt die Politik das Thema ernst.
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Gleichzeitig verspielt die Bewegung damit Sympathien.
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Zudem hat sie bislang versäumt, politische Forderungen zu entwickeln, die mehrheitsfähig sind.
Zwar stimmen die meisten Amerikaner der Einschätzung zu, dass sich im Umgang der Polizei mit Minderheiten etwas ändern muss. Was genau, darüber herrscht aber keine Einigkeit.
Die Milizen verstehen sich als Sturmtruppen des Präsidenten
Einer neuen Umfrage des Senders NPR zufolge sind fast zwei Drittel der weißen Amerikaner dagegen, der Polizei die Mittel zu kürzen und damit lieber soziale Dienste zu finanzieren. Genau das aber ist eine zentrale Forderung von Black Lives Matter.
Die Gewalt einer Minderheit bietet zudem den Konservativen einen Anlass, selbst aufzurüsten. Die bewaffneten Milizen, die zunehmend in Portland, Atlanta und anderen Städten auf Anti-Rassismus-Demonstrationen auftauchen, verstehen sich als Sturmtruppen des Präsidenten. Es ist kein Zufall, dass der Schütze von Kenosha Trump-Anhänger ist.
Kenosha ist daher auch ein Signal dafür, dass die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt eine neue Strategie brauchen, wenn sie etwas bewirken sollen. Die Gefahr, dass das Land in Gewalt versinkt, ist groß.
Nicht alle Entwicklungen sind hoffnungslos. Auf dem Platz vor dem Gerichtsgebäude in Kenosha haben sich etwa 30 Demonstranten versammelt. Zwei Beamte gehen zu der Gruppe und suchen das Gespräch. «Ihr denkt doch alle, wir seien nur auf Randale aus», ruft eine schwarze Frau. «Wir wollen keine Gewalt», sagt sie. «Wir wollen Gerechtigkeit.» Einer der Polizisten antwortet: «Was glaubst Du, warum ich herübergekommen bin? Um mit euch zu sprechen. Das ist hier mal ein Anfang.»
Er wirkt dabei glaubwürdig, aber die Frage ist, wie viele seiner Kollegen das auch so sehen. In den sozialen Netzwerken kursiert ein Video, das Polizisten zeigt, wie sie den bewaffneten Milizionären in Kenosha Wasser geben. Einer sagt: «Wir wissen es wirklich zu schätzen, dass ihr hier seid.»
Später im Hotel kommt ein schwarzer Gast in Bademantel und Schlappen aus seinem Zimmer. Er stellt sich als Troy vor und hat offenkundig Gesprächsbedarf.
Seine Wohnung sei über einem Geschäft gelegen, erzählt er. Am Sonntag sei das Haus von ein paar Demonstranten bis auf die Grundmauern abgefackelt worden. «Das waren die gleichen Leute, mit denen ich ein paar Stunden vorher noch zusammen demonstriert habe.»
Er sei durch mit der Bewegung, sagt Troy. Aber glaubt er auch nicht mehr an deren Ziele? «Schwarze Leben sind wichtig», sagt er. «Aber alle schwarzen Leben, nicht nur eins.»
Source: spiegel.de
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