1. Kaufen die Leute wieder Masken, wenn sie keine Masken tragen müssen?
Jedem kommt die Coronakrise auf andere Weise nahe; mich haben in den vergangenen Tagen zwei Meldungen mit Wehmut erfüllt, die klein wirken angesichts der weltweiten Krise mit Hunderttausenden Toten, Millionen Infizierten und Milliardenverlusten (alle Entwicklungen hier). Aber man sucht sich nicht aus, was einen berührt. Eine der Meldungen kommt aus Berlin, meiner alten Heimat, eine aus Hamburg, meiner neuen:
Bei Deko Behrendt habe ich als Kind meine ersten Vampirzähne bekommen und mir diese roten Knallbänder für meinen Plastikcolt gekauft. (Keine Ahnung, wie die heißen. Wenn Sie es wissen, schreiben Sie mir.) Bei Schuhmacher bekam man Karten für ein Klavierkonzert von Igor Levit, wenn im Netz schon alles ausverkauft war.
Schon vor Corona haben die Leute ihre Clownsnasen und Tickets häufiger im Netz bestellt; jetzt bricht auch der Rest weg — keine Kostümpartys, keine Konzerte. Die Pandemie beschleunigt das Siechtum lokaler Institutionen; das Virus droht die Innenstädte zu killen. Traditionsläden machen dicht — Platz für noch einen Coffeeshop und noch ein Modehaus.
Die Frage ist, ob es sich für kleine Einzelhändler lohnen würde, unter Schmerzen durchzuhalten und zu kämpfen. Kommen die Kunden wieder, wenn sie keine Masken mehr tragen müssen?
Meine Kollegin Carolin Wahnbaeck hat sich in Österreich umgehört, wo seit Mitte Juni wieder maskenfrei geshoppt werden darf, fast ohne Einschränkungen. Ihre Recherche dämpft die Hoffnung: Es kaufen zwar wieder mehr Leute ein, aber eben nicht so viele wie vor der Krise. Von unbeschwertem Kaufrausch kann keine Rede sein. «Aufs Klamottenshoppen hat kaum jemand Lust», sagt Carolin. «Obwohl man im Spiegel wieder normal aussieht, keine Atemnot beim Anprobieren bekommt und eigentlich das Gefühl hat, alles sei wieder gut.» Offenbar wirkt die Furcht vor dem Jobverlust, die Ungewissheit schwerer als jede gelockerte Regel — leider kein Handel durch Annäherung.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Wenn die Masken fallen
2. Flüchtlinge auf Viehtransporter: Europas Scheitern
Menschen kauern in verdreckten Ställen, es fehlt an allem, einige prügeln sich um Zigaretten — es ist kaum auszuhalten, was der Kapitän des Viehtransporters MV «Taila» unserem Rom-Korrespondenten Frank Hornig berichtet: Mohammad Shabaan liegt mit seinem Schiff gerade vor Malta, er und seine Crew haben 50 Flüchtlinge aus Seenot gerettet, am Freitag schon, in Absprache mit den maltesischen Behörden, wie der Seemann beteuert.
«Jetzt wundert er sich, dass man ihn mit den Migranten alleinlässt», sagt Frank, der heute früh mit Shabaan telefoniert hat. Den Kampf um die Zigaretten filmte der Kapitän, das Video schickte er Frank. «Ich spürte die Angst in seiner Stimme. Er fürchtet, auf seinem eigenen Schiff die Kontrolle zu verlieren.»
Besonders bitter: Organisationen wie Sea-Watch sind auf lange Rettungstouren vorbereitet, sie haben Medikamente und Trinkwasser dabei. Sie aber werden immer wieder schikaniert, dürfen nicht auslaufen — oder mit den Geretteten nicht anlegen. Auf einem Frachter ist die Not ungleich größer. «Es ist eine Schande, Menschen wie Vieh in dreckigen Ställen vor den Küsten Europas warten zu lassen», sagt Frank.
Er fragte einen Kollegen der «Times of Malta», wann sein Land die Flüchtlinge an Land lassen werde. Die Antwort: «Ich glaube nicht, dass das passiert.» Malta unterscheidet sich in der Haltung kaum von Italien — und auch nicht vom Rest Europas. Die EU scheitert seit Jahren daran, die Flüchtlinge fair auf dem Kontinent zu verteilen. «Das Thema spielt zurzeit keine große Rolle», so Frank. Corona verdrängt alle anderen Probleme, es ist kaum auszuhalten.
3. Hier fehlt eine Drei
Ganz schnell: In der Novelle zur Straßenverkehrsordnung taucht eine einzelne, entscheidende Ziffer nicht auf. Deshalb sind strengere Fahrverbote für Temposünder offenbar hinfällig. Wie kann das sein? Mein Kollege Dietmar Hipp erklärt die Hintergründe hier so, dass auch Nichtjuristen sie verstehen.
Meine Lieblingsstory heute: Rassismusvorwürfe gegen Adidas
Weiße Streifen, weiße Entscheider: Bei Adidas schwelt ein Konflikt, der die Firma zu zerreißen droht, wie meine Kollegen Anton Rainer und Christoph Schult recherchiert haben. Es geht um den Vorwurf, Adidas werbe zwar mit schwarzen Stars wie Kanye West (neuerdings selbst erklärter Anwärter auf die US-Präsidentschaft), Beyoncé und Pharrell Williams, um eine schwarze Zielgruppe zu erreichen — interessiere sich aber in Wahrheit nicht für deren Belange. Mitarbeiter erzählen von rassistischen Witzen und Beleidigungen.
Kein ganz neuer Vorwurf, die «New York Times» hatte im vergangenen Jahr über Ähnliches berichtet. Adidas gelobte Besserung, tut sich aber bis heute sehr schwer, wie Anton sagt. Er hat interne Chats und Mails zugespielt bekommen, mit Adidas-Leuten gesprochen und zeichnet das Bild einer Trendmarke, die überfordert wirkt mit der Krisenkommunikation in eigener Sache: «Am meisten hat mich überrascht, wie frustriert das Unternehmen noch immer ist, derart im Fokus zu stehen.»
Adidas, wir erinnern uns, das ist der weltweit zweitgrößte Sportartikelhersteller, Schraubstollen-Erfinder, Ausstatter der Nationalmannschaft und zahlreicher Turnbeutelträger im Grundschulalter. Es ist aber auch jene Firma, die zu Beginn der Coronakrise erst keine Mieten mehr zahlen wollte und schließlich ein paar Milliarden an Hilfskrediten vom Staat beantragte. Anton, der vor Kurzem sein erstes Paar Adiletten geschenkt bekam, sagt: «Adidas hat gelernt, mit Millionen um sich zu werfen, um PR-Probleme zu lösen.» Ob es reicht, den Konflikt mit seinen Mitarbeitern zu klären? Just do it, um einen Konkurrenten zu zitieren.
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Jeder fünfte Deutsche erleidet in seinem Leben eine Depression. Besonders kritisch ist der Moment, wenn Patienten aus der Klinik entlassen werden, zeigt eine neue Studie.
Was heute nicht ganz so wichtig ist
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Drachenlady, ungeheuer dankbar: Emilia Clarke, 33, Darstellerin der «Game of Thrones»-Figur mit dem etwas umständlichen Ehrentitel «Daenerys Sturmtochter aus dem Hause Targaryen, die Erste ihres Namens, Königin der Andalen und der Ersten Menschen, Khaleesi des Dothrakischen Meeres, Brecherin der Ketten und Mutter der Drachen» hat sich in einem Brief beim britischen Krankenhauspersonal für dessen Einsatz im Kampf gegen die Pandemie bedankt, vor allem bei jenen Pflegern, die sie im Jahr 2011 nach der Operation eines lebensbedrohlichen Aneurysmas betreuten. «In all diesen Momenten, in diesen drei Wochen war ich nicht, niemals, wirklich allein.»
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Das Leben ist wie eine Packung Schmerztabletten: Tom Hanks, 63, Schauspieler, bekannt selbst aus Filmen, in denen er nicht mitspielte, hat von seiner zurückliegenden Covid-19-Erkrankung berichtet. Unter «lähmenden Kopfschmerzen» habe er gelitten und unter großer Müdigkeit. Obwohl er mit Stent und Diabetes zu den Risikopatienten zähle, habe er aber keine Furcht verspürt. «Ich bin keiner, der morgens aufwacht und sich fragt, ob ich das Ende des Tages erleben werde oder nicht. Ich sehe das ziemlich gelassen.»
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Gerd-Wende: Gerhard Schröder, 76, ehemaliger Bundeskanzler hat seine Einschätzung von Deutschlands Lehrkräften korrigiert. Noch als Niedersachsens Ministerpräsident sah er sie eher als Lehrschwächen: «Ihr wisst doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.» Jetzt habe er sich eines Besseren «belehren lassen müssen»: «Es gibt ein großes Engagement von vielen über den Schulalltag hinaus.»
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: «Kia mausert sich zum heimlichen Vorreiter bei alternativen Antrieben. Das Konkurrenzmodell zum VW-Golf kommt jetzt dezent aufgerauht als Crossover XCeed auf den Markt — und überzeugt mit einem Technikkniff.»
Cartoon des Tages: Rassismus bei der Polizei
Und heute Abend?
Beatles hören! Auch immer eine gute Idee, der Anlass heute: Der Clown, Diplomat und Partylöwe Ringo Starr wird 80. Schlaumeier mögen ihn der Unvirtuosität zeihen, aber wie mein Kollege Christoph Dallach richtig schreibt: «Technik und Präzision standen nie im Zentrum von Starrs Schlagzeugspiel, stattdessen improvisierte er so lustvoll und fröhlich, wie es seinem Charakter entsprach.» Hier lesen Sie die ganze Würdigung.
In diesem Sinne: erst Abendbrot, dann «A Hard Day’s Night».
Herzliche Grüße
Ihr Oliver Trenkamp
Hier können Sie die «Lage am Abend» bestellen.
Source: spiegel.de
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