Kurz vor Schluss gibt es zum ersten Mal Applaus. Angela Merkel hat über Grundrechte gesprochen und den Wiederaufbauplan für Europas Wirtschaft gelobt. Sie hat digitale Souveränität für Europa gefordert und auch einige Worte zum Klimaschutz gefunden.
Dann wird sie noch mal grundsätzlich.
Das Coronavirus, sagt Merkel, habe dem Fakten leugnenden Populismus seine Grenze aufgezeigt. «Mit Lüge und Desinformation lässt sich die Pandemie nicht bekämpfen, ebenso wenig wie mit Hass und Hetze. In einer Demokratie braucht es Wahrheit und Transparenz.»
Merkel hat 18 Minuten geredet, erst jetzt applaudieren die Abgeordneten.
Denn sie lesen die Sätze als Attacke auf Donald Trump in den USA und auf Großbritanniens Premier Boris Johnson. Auf all jene also, die das Virus nicht ernst nehmen, und ihre Bürger so in tödliche Gefahr bringen — oder, wie Viktor Orbán in Ungarn, die Angst vorm Virus nutzen, um bürgerliche Freiheiten einzuschränken.
«Mit Lüge und Desinformation lässt sich die Pandemie nicht bekämpfen, ebenso wenig wie mit Hass und Hetze. In einer Demokratie braucht es Wahrheit und Transparenz.»
«Wir dürfen nicht naiv sein», sagt Merkel. «In vielen Mitgliedstaaten warten die Europagegner nur darauf, die Krise für ihre Zwecke zu missbrauchen.»
Europa aus der Krise führen und den Populisten zeigen, dass die EU liefern kann — damit sind die wichtigsten Aufgaben für die deutsche Ratspräsidentschaft gut beschrieben.
Die Kanzlerin hat an diesem Mittwoch im Europaparlament die Schwerpunkte der nächsten Monate vorgestellt. Ein Routinetermin, der seine Bedeutung erst durch seine besonderen Umstände bekommt. Es ist die erste Auslandsreise der Kanzlerin seit der Corona-Unterbrechung.
Vor allem aber stehen in Brüssel in den nächsten Wochen und Monaten wichtige Entscheidungen an.
Es geht um die Verteilung von sage und schreibe bis zu zwei Billionen Euro, die vor allem an von der Coronakrise besonders betroffene Länder gehen sollen.
Es geht darum, ob die EU diese Krise geeint übersteht oder sich nach anfänglichen Grenzschließungen und gegenseitigen Exportverboten noch weiter zerlegt. Nicht zuletzt, daran erinnert nun auch Merkel, stehen auch die Werte der Gemeinschaft auf dem Spiel.
Merkel spricht von ihrem Platz im Plenum aus, vom Präsidenten aus gesehen links, aufgrund der Corona-Abstandsregeln sind die Reihen nur lückenhaft besetzt. Die Kanzlerin beginnt ihre Rede mit grundsätzlichen Erwägungen zu Grund- und Menschenrechten. Freiheit, Schutz vor Diskriminierung und Missachtung, die Gleichberechtigung — «Sie bilden das ethisch-politische Fundament, auf dem Europa ruht», sagt Merkel.
Orbán hat Grund zur Freude
Interessanter ist indes, was Merkel erst mal nicht sagt — über den Rechtsstaatsmechanismus etwa verliert sie kein Wort. Dabei hatte auch die Bundesregierung bis zuletzt gefordert, Rechtsstaatssündern wie Polen oder Ungarn künftig das Geld kürzen zu können und sich für entsprechende Vorgaben beim künftigen Mehrjahresbudget starkgemacht.
Schließlich sagt Merkel, allerdings erst in ihrer kurzen Antwort auf die Stellungnahmen der Parlamentarier: Der Rechtsstaat habe zwar absolute Priorität. «Nichtsdestotrotz müssen wir die Basis dafür schaffen, dass wir arbeiten können, dazu gehört der mittelfristige Haushalt, dazu gehört der Wiederaufbaufonds.» Das Interesse, dass die Gelder dort ankommen, wo sie hinsollen, sei «legitim».
Man könnte es so zusammenfassen: Merkel appelliert zwar lautstark, dass die EU-Länder Grundrechte einhalten sollen. Daran, ein wirksames Mittel in die Hand zu bekommen, um Orbán und Co. notfalls dazu zu zwingen, glaubt sie offenbar nicht mehr.
Immerhin: Alle anstehenden Entscheidungen müssen einstimmig gefasst werden.
Stimmenfang – Der Politik-Podcast
Orbán wird es freuen. Nur wenige Stunden vor Merkels Auftritt in Brüssel hatte Ungarns Premier gemeinsam mit anderen Renegaten aus der Europäischen Volkspartei (EVP) für ein ganz anderes Europa geworden. Sein Auftritt in einer Videokonferenz mit Janez Jansa aus Slowenien und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic wirkte wie eine Aufforderung zum Fernduell mit Merkel. Die Rede der Kanzlerin, ein paar Stunden später, wirkte wie eine Antwort. «Der Westen sollte seine Ansichten nicht den Ländern des Ostens aufzwängen», sagt Orbán. «Europa soll international für eine Ordnung des Rechts stehen», sagt Merkel.
«Der Nordpol schmilzt, Australien brennt und die liberale Demokratie wird angegriffen.»
Die Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft sind hoch, auch jenseits der Rechtsstaatsfrage. «Ich weiß, das drückt», sagt Ursula von der Leyen, die nach Merkel redet, «Aber das ist ja auch was Schönes, wenn man euch was zutraut.» EVP-Fraktionschef Manfred Weber malt ein fast schon apokalyptisches Bild vom Zustand des Kontinents und der Welt: «Der Nordpol schmilzt, Australien brennt und die liberale Demokratie wird angegriffen», sagt er. Angesichts dessen dürfe die deutsche Ratspräsidentschaft «nicht zur Fußnote werden».
Sein Kollege von den Linken, Martin Schirdewan, spricht von Merkels «zweiter Chance» — nachdem sie Südeuropa in der Eurokrise mit ihrer Sparpolitik geknechtet habe.
Wie Merkel den Parlamentariern schmeichelt
Merkel hört sich all das geduldig an, es sind nicht die einzigen Klagen und Wünsche, die ihr an diesem Tag vorgetragen werden. Der erste Brüsseler Termin an diesem Mittwoch nämlich hatte Merkel kurz nach 13 Uhr in das Büro von Parlamentspräsident David Sassoli im neunten Stock des Abgeordnetenbaus geführt. Dort mahnte der Italiener — nach allem, was man hört — eine starke Rolle des Parlaments beim Corona-Wiederaufbau an.
Nicht ganz zufällig schmeichelt Merkel den Parlamentariern dann in ihrer Rede gehörig. Ihre erste Reise führe sie «bewusst und mit ganzer Überzeugung zu ihnen — ins Herz der europäischen Demokratie», sagt Merkel.
So redet man, wenn man weiß, dass man in Zukunft wohl noch mit schlechten Nachrichten kommen wird.
Nach ihrer Rede schaut Merkel noch bei der EVP-Fraktion vorbei, zu der auch die Abgeordneten von CDU und CSU gehören, leider sind Journalisten, anders als sonst üblich, noch nicht mal zu Beginn ihrer Visite im Saal erwünscht.
Merkel habe mitteilen lassen, so heißt es, dass sie in Brüssel auf keinen Fall Bilder von Gedränge wünsche. Wenn es mit der Einhaltung der Corona-Abstandsregeln mal nicht so gut klappt, etwa unter den Fotografen und Kameraleuten, die Merkels kurzes Eingangsstatement mit dem Parlamentspräsidenten filmen wollen, schüttelt Merkels Regierungssprecher für alle sichtbar den Kopf.
Nach dem Plausch mit den Parteifreunden fährt Merkel ins Berlaymont weiter, dem Hauptquartier der EU-Kommission. Ursula von der Leyen will dort am Abend mit Merkel und den Präsidenten von Parlament und Rat, also Sassoli und Charles Michel, über den EU-Gipfel kommende Woche beraten.
Anschließend muss Merkel dann noch separat auf einen Sprung zu Michel. Immerhin: Der Ratspräsident führt die Verhandlungen über Mehrjahreshaushalt und Aufbauprogramm, er leitet auch die Verhandlungen beim Gipfel Ende nächster Woche.
Merkel fürchtet offenbar, dass das mögliche Ergebnis, neue Milliardenschulden, nicht jedem in ihrer Partei gefällt. Wenn es um die Beurteilung des Gipfels in der nächsten Woche gehe, so sagt die Kanzlerin bei der EVP hinter verschlossenen Türen, bitte sie «um Toleranz».
Source: spiegel.de
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