Willkommen in den Union Stock Yards — Chicagos Gruselkabinett für Hartgesottene! Neugierig erklommen Schaulustige die Besuchergalerie dieser Touristenattraktion am Rande der Stadt, geboten wurde eine makabre Show: Zuerst wurden die Schweine lebendig an einem Bein aufgehängt und in die Luft gerissen. Verzweifelt quiekend baumelten sie in der langgestreckten Halle ihrem Tod entgegen.
«Der Lärm war grauenhaft; er drohte das Trommelfell zu zerreißen (…) Da war hohes Quieken und tiefes Quieken, grimmiges Grunzen und qualvolles Wimmern (…). Für manche Zuschauer war es zuviel — die Männer schauten einander an und lächelten verkrampft; die Frauen standen mit zusammengepressten Händen da, das Blut schoss ihnen ins Gesicht, und ihre Augen wurden feucht.
Von alle dem ungerührt, verrichteten die Leute unten ihre Arbeit; Todesschreie von Schweinen und Tränen von Besuchern ließen sie völlig kalt. Sie packten die Tiere eines nach dem anderen und stachen sie blitzschnell ab. In der langen Reihe Schweine versiegte das Quieken zusammen mit dem Herzblut, bis schließlich jedes der nun toten Tiere an seinem Haken weiterrückte, dann in einen riesigen Kessel mit kochendem Wasser plumpste und darin verschwand.»
Library of Congress
So beschrieb US-Autor Upton Sinclair in seinem 1906 erschienenen Roman «The Jungle» (Der Dschungel) den Alltag in den Yards, Zentrum der amerikanischen Fleischverarbeitungsindustrie in Chicago — zu Beginn des 20. Jahrhunderts größte Fleischfabrik der Welt.
Ausgrenzung, Abwertung, Not
Ende 1865 eröffnet, glich die Union Stock Yard Transit Company einer Stadt in der Stadt. Knapp 200 Hektar groß, mit Bank, sechsstöckigem Nobel-Hotel und Kraftwerken, von mehr als 480 Kilometern Schienennetz umgeben. In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts stammte gut 80 Prozent des US-Fleisches aus Chicago, moderne Lohnsklaven verarbeiteten dort unter jämmerlichsten Bedingungen 13 Millionen Tiere pro Jahr.
Sinclair wusste, wovon er schrieb: Sieben Wochen lang hatte er sich auf dem Gelände umgesehen, Arbeiter begleitet, Ärzte interviewt. Das System, das der Schriftseller vor gut 100 Jahren anprangerte, existiert in seinen groben Zügen bis heute fort: Nach wie vor überschwemmen hochindustrialisierte Fleischkonzerne den Markt mit Steaks zu Dumpingpreisen — auf der Strecke bleibt die Würde von Mensch und Tier.
Genau wie heute waren es schon zu Beginn der Fleischindustrie nicht die Einheimischen, die den Knochenjob erledigten: Angeheuert wurden für Chicagos Schlachthöfe massenhaft Migranten — etwa aus Osteuropa.
Hoffnungsfroh machten sich die Familien auf, um dem Elend zu entfliehen und sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein besseres Leben aufzubauen. Was sie stattdessen erfuhren, war Ausgrenzung, Abwertung, Not.
Von professionellen Anwerbern ins Land gelockt
«Schon damals litten die Fleischarbeiter unter massivem Othering«, betont Kulturhistorikerin Mieke Roscher, bundesweit erste Professorin für die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen. Wie stark diese Ausgrenzung bis heute fortwirkt, zeige die aktuelle Debatte um Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen.
«Diese Menschen werden räumlich und semantisch ausgesondert, als ‘die anderen’ diskriminiert», so Roscher. «Unsere Sorge gilt nicht ihrem Elend, sondern primär dem Risiko der eigenen Ansteckung mit dem Virus.» Eine Lobby haben sie nicht, die aktuelle Rassismus-Debatte geht an ihnen vorbei.
Schon damals litten die Fleischarbeiter unter massivem Othering
Stammen die Arbeiter in den Schlachtbetrieben hierzulande aktuell vor allem aus Rumänien und Bulgarien, kamen sie Ende des 19. Jahrhunderts etwa aus Litauen, Polen, der heutigen Slowakei. Im Auftrag der Fleischbarone reisten professionelle Anwerber nach Osteuropa.
Gestank von Blut, Kot und Gedärm
Wie bitter die Menschen in den USA enttäuscht wurden, schilderte Sinclair am Beispiel seines Romanhelden, dem jungen Jurgis Rudkus aus Litauen. Mit seiner Familie muss er in eine schäbige Arbeiter-Siedlung ziehen, der Gestank von Blut, Kot und Gedärm schnürt ihm die Luft ab.
In der neuen Heimat ertrinkt ein Säugling in einer dreckigen Pfütze, wird ein kleiner Junge von Ratten aufgefressen. Zuerst stirbt der Vater an den Folgen eines Arbeitsunfalls, dann wird die Ehefrau von einem Vorarbeiter sexuell missbraucht.
Jurgis selbst muss zwölf Stunden pro Tag arbeiten, um die Raten für das Haus abzustottern: «Bis in den Abend hinein gab es nicht die kleinste Verschnaufpause für ihn, keine einzige Sekunde, in der sich seine Hände oder sein Hirn entspannen konnten», so Sinclair.
«Als hetze ihn ein Teufel»
Um die Mäuler der Welt mit Billigwurst zu stopfen, legten die Arbeiter bei den Union Stock Yards ein atemberaubendes Tempo vor. Ihr Pulsgeber: das Fließbandsystem, 1862 als «Disassembly Line» (Zerlegungslinie) in Cincinnati erfunden, 1913 von Henry Ford auf die Autoindustrie übertragen.
Aus aller Welt reisten Geschäftsleute nach Chicago, um die hochmodernen Methoden zu bestaunen. «Wir deutschen Besucher standen vor und in diesen Hallen wie die Würstchen vom Lande», erinnerte sich Herta-Erbe Karl Ludwig Schweisfurth an seinen ersten Besuch in den Yards in den Fünfzigerjahren. Den hocheffizienten Prozess beschrieb Sinclair wie folgt:
«Einer schabte die Außenseite eines Beines ab, ein anderer die Innenseite. Einer führte einen schnellen Schnitt um den Hals herum, ein anderer trennte mit zwei raschen Hieben den Kopf ab, der auf den Boden fiel und durch ein Loch verschwand.
Einer schlitzte den Bauch auf, ein zweiter erweiterte die Öffnung, ein dritter zersägte das Brustbein, ein vierter löste die Innereien, ein fünfter zog sie heraus, und auch sie glitten durch ein Loch im Fußboden davon.
Da saßen Männer, die die Seiten und den Rücken schabten, und andere, die den Körper innen sauber putzten und auswuschen. Blickte man in den Saal hinunter, sah man eine hundert Meter lange Reihe hängender Tierleiber, die sich langsam vorwärtsbewegte, und alle Meter gab es einen Mann, der werkte, als hetze ihn ein Teufel.»
Wurst aus Ratten, Nägeln, Dreck
Die monotone Akkordarbeit zermalmte Körper und Seelen der Menschen; «fast alle waren schrecklich gezeichnet», so Sinclair:
«Die Hände dieser Leute waren kreuz und quer von Schnittnarben durchzogen, die sich nicht mehr zählen und auseinanderhalten ließen. Fingernägel hatten sie keine mehr, denn die wetzten sich beim Häuteziehen völlig ab (…)
Dann die Männer, die in den Kochereien arbeiteten, bei künstlichem Licht und inmitten von Wrasen und ekelerregendem Gestank; hier konnten sich die Tuberkelbazillen zwar zwei Jahre halten, doch kam stündlich neuer Nachschub hinzu (…).
Dann die Fleischträger, die zwei Zentner schwere Rinderhälften in die Kühlwaggons schleppten — eine mörderische Schufterei (…) Dann die Leute in den Kühlhallen; ihr typisches Leiden war das Rheuma, und fünf Jahre galten als längste Zeit, die dort durchzuhalten war.»
Die von Sinclair beschriebenen Arbeitsbedingungen in den Yards waren ebenso skandalös wie die Ingredienzen der zubereiteten Ekel-Ware: Im Wursttrichter landete dem Autor zufolge alles, was wegmusste: vergiftete Ratten, Dreck, Nägel, fauliges Wasser, Rost.
«Onkel Tom’s Hütte der Lohnsklaverei»
Sinclair, seit seinem Aufenthalt in Chicago bekennender Vegetarier, veröffentlichte «The Jungle» zunächst als Fortsetzungsroman in dem sozialistischen Wochenblatt «Appeal to Reason». Als er dann ein Buch herausbringen wollte, fand sich anfangs kein Verleger. Zudem versuchte der Fleisch-Trust, die Veröffentlichung zu vereiteln — ein geschmierter Reporter bezichtigte Sinclair der Lüge.
Im April 1906 kam «The Jungle», gewidmet «den amerikanischen Arbeitern», dennoch heraus, wurde in 17 Sprachen übersetzt — und sorgte weltweit für Entsetzen: In Europa brach der Absatz des amerikanischen Fleisches ein, in Chicago schlossen Konservenfabriken. Schriftstellerkollege Jack London pries «The Jungle» als «Onkel Tom’s Hütte der Lohnsklaverei». Und Bertold Brecht verfasste nach der Lektüre sein Theaterstück «Die Heilige Johanna der Schlachthöfe».
Sinclair wurde von US-Präsident Theodore Roosevelt höchstpersönlich zum Lunch ins Weiße Haus eingeladen und mit dem Schimpfwort «muckraker» («Schmutzaufwühler») geadelt. Entnervt schickte der Präsident seine Referenten zur Recherche nach Chicago. Sie bestätigten alle im Buch erhobenen Vorwürfe — mit Ausnahme der Arbeiter, die angeblich in einen Brühkessel gefallen waren und zu «Durhams Feinschmalz» verarbeitet wurden.
Noch 1906 brachte die US-Regierung den «Pure Food and Drug Act» sowie den «Federal Meat Inspection Act» auf den Weg. Die Gesetze zielten in erster Linie darauf ab, Hygiene und Qualität der Ware zu verbessern. Die anhaltende Ausbeutung der Arbeiter indes bewegte die Menschen allenfalls kurzfristig. «Auch das ein Mechanismus, der sich bis heute gehalten hat», so Historikerin Roscher — die Aufmerksamkeitsspanne sinke von Skandal zu Skandal.
Ernüchtert schrieb Sinclair 1906 in der Zeitschrift «Cosmopolitan»: Ich zielte auf das Herz der Öffentlichkeit, durch Zufall traf ich es in den Magen.» Und auch Bert Brecht gelang es nicht, mit seiner «Heiligen Johanna der Schlachthöfe» die Menschen nachhaltig gegen die unappetitlichen Auswüchse des Kapitalismus zu mobilisieren. Das hochaktuelle Fazit seiner Märtyrerin Johanna Dark: «Die unten sind, werden unten gehalten, damit die oben sind, oben bleiben. (…) Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.»
Ein kleines Virus allein wird es jedenfalls nicht richten.
Source: spiegel.de
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