Krastev, Jahrgang 1965, ist ein bulgarischer Philosoph und Politologe, der in Wien am Institute for the Human Sciences forscht. Er gilt als einer der originellsten Denker des neuen Europa. Nach seinen Büchern «Europadämmerung» und «Das Licht, das erlosch» über die politischen und ideellen Wirrungen der westlichen Welt hat er nun, rund drei Monate nach dem Beginn des europäischen Lockdowns, eine der ersten politischen Analysen des Ausnahmezustands veröffentlicht: «Ist heute schon morgen?»
SPIEGEL: Herr Krastev, wo haben Sie die Zeit des Lockdowns verbracht?
Krastev: In Bulgarien, bei Freunden auf dem Land. Wir leben seit zehn Jahren in Wien, und natürlich verfügt Österreich über eine bessere Gesundheitsversorgung, aber wir gingen, für mich selbst überraschend, zurück nach Bulgarien.
SPIEGEL: Warum?
Krastev: Mir war das nicht bewusst, aber anscheinend sucht der Mensch im Moment der Gefahr die Zuflucht in der Heimat. Viele Bulgaren leben heute im Ausland, 200.000 von ihnen kamen nach Ausbruch der Pandemie zurück. Die Nähe zur Familie und zu Orten, die man sein Leben lang kennt, scheint da eine Rolle zu spielen. Und auch die Muttersprache, die einem Sicherheit gibt. Mir fallen die vielen sowjetischen Spionagefilme ein, die ich in meiner Jugend gesehen habe: Der gefährlichste Moment für eine dieser sowjetischen Agentinnen im Ausland ist es, wenn sie ein Kind gebärt. Sie verfällt vor lauter Schmerzen und Angst ins Russische und verrät damit ihre wahre Identität.
Source: spiegel.de
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