четверг, 5 марта 2020 г.

Indien: Das Geschäft mit den kleinen Händen: Wie Kinderarbeit arme Familien arm hält

Nein, es gibt keine Kinderarbeit, sagt der freundliche Herr von der Assam Tea Association, dem Verband der regionalen Teeproduzenten. Hier nicht und auch nicht anderswo auf den Teefeldern des Bundesstaates Assam im Nordosten Indiens. Da, wo der schwere, aromatisch-dunkle Tee herkommt, der nach Russland und in die Türkei verkauft wird, aber auch zu uns nach Deutschland. Indien ist der zweitgrößte Teeproduzent der Welt.

«Kein Mensch arbeitet bei uns, der jünger als 15 Jahre alt ist», versichert der Funktionär der Assam Tea Association. Es gebe auch keine Ausbeutung. Wer fleißig sei, könne gutes Geld verdienen beim Pflücken der Teeblätter.

Teeplantagen ohne Arbeiter

Der Blick schweift über die schönen, gepflegten Hügel der «Amchong Tea Estate» mit ihren Teepflanzen, aber kein Arbeiter und keine Arbeiterin ist auf den steilen Hängen zu sehen. Arbeitskräfte werden jetzt noch nicht gebraucht, wird uns versichert, das sei der Grund, warum die Teegärten menschenleer seien. Erst wenn die Erntesaison beginne, brauche man tausende fleißige Hände. Und fleißige Hände gibt es hier: reichlich, zum Billig-Preis.

Gerd Müller (M.), Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, macht sich im Gespräch mit Teepflückerinnen ein Bild von ihrer Situation

Gerd Müller (M.), Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, macht sich im Gespräch mit Teepflückerinnen ein Bild von ihrer Situation

Aus Deutschland ist Bundesentwicklungsminister Müller angereist, später auf dem Rückflug wird er im Interview mit dem stern sagen: «Empörung genügt nicht. Man muss was tun. Und das heißt: faire Lieferketten gestalten.» Auch die Verbraucher in Deutschland seien gefragt, so Müller. «Nicht nur hirnlos konsumieren, sondern nachhaltig konsumieren. Mit dem Einkaufskorb entscheidet sich das Schicksal vieler Menschen am Anfang der Lieferkette.» Jetzt steht der Minister aus «Germany» hier, in seinem weißen Hemd, zwischen all den Teefeldern: am Anfang der Lieferkette. Jedenfalls hofft er, einen Eindruck davon zu erhaschen.

Assam ist das Armenhaus Indiens. Die Menschen, die sich hier auf den Teefeldern verdingen, gehören zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes. Wenn geerntet wird, strömen sie herbei aus ihren armseligen Dörfern, die wir auf der schier endlosen Fahrt hierher über buckelige und von kratertiefen Schlaglöchern durchsetzten Lehmpisten gesehen haben. 3,50 Dollar (ca. 3,20 Euro) verdiene eine geschickte, fleißige Pflückerin – pro Tag, sagt der Funktionär vom Teeverband. Er findet, das sei doch gutes Geld.

Organisation holt Kinder aus der Versklavung

Martin Kasper vom «Child Aid Network», einer Organisation, die seit Jahren in Indien Kinder aus Ausbeutung und Versklavung holt, nennt andere Zahlen. Auf der Weiterfahrt weg vom Teefeld sitzt er mit uns im Auto. «Eine Tee-Pflückerin kommt vielleicht auf 1,50 Euro pro Tag für 25 Kilo Teeblätter, die sie abliefern muss. Und diese Menge schafft sie auch nur, wenn die Tochter bei der Ernte mithilft.» Und eben nicht zur Schule geht. Und eben nichts lernt. Und deswegen später auch genauso arm ist wie ihre Mutter jetzt. Das ist der Kreislauf, den Kasper mit seiner Organisation durchbrechen will.

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«Es gibt Kinderarbeit in Indien, natürlich gibt es sie», sagt Kasper. «Das Thema wird von offizieller Seite beschwiegen, bemäntelt, verharmlost. Aber ich habe tausende Kinder gesehen, die in Steinkohleminen arbeiten mussten, in Steinbrüchen, Nähereien, in der Gastronomie, als Reinigungskraft, auf Teeplantagen, in kleinen Hinterhof-Betrieben. Es sind Hunderttausende, Millionen. Und es ist ein sehr lukratives Geschäft.»

Kasper bereist Indien seit Jahrzehnten und kennt sich im Land gut aus. Wenn eine 100-Gramm-Packung Tee im Discounter in Deutschland für 3 Euro verkauft wird, dann kriegt die Teepflückerin in Assam von diesen 3 Euro ungefähr 3 Cent, so schätzt Kasper. Das ist ihr Anteil am Endprodukt – ein Prozent.

Ohne Bildung setzt sich der Teufelskreis fort

Ihn stört das Business der Ausbeutung, vor allem das der Ausbeutung der Kinder. Er spricht mit den Eltern, von denen viele Analphabeten sind. Er überzeugt sie, dass ihr Kind eine Schule besuchen soll, um aus dem Teufelskreis der Armut auszubrechen, er versorgt über Partner-Organisationen die entkräfteten und oft völlig verwahrlosten Kinder mit warmen Mahlzeiten. Viele wurden, um ihnen noch mehr Leistung abzupressen, von Chefs oder Vorarbeitern während der Arbeit geschlagen. Kinder zu schlagen ist in Indien nicht unüblich.

Oft geraten die Familien über das traditionelle System der «Schuldknechtschaft» in die Abhängigkeit von Kinderhändlern und Betriebsinhabern. Ein Familienmitglied wird krank, der Arzt muss bezahlt werden, oder die Tochter soll verheiratet werden und man braucht eine Mitgift, das sind typische Fälle. Man verschuldet sich und nimmt auf die armselige Behausung eine Hypothek auf. Die Schulden können die Eltern aber niemals abbezahlen. Also müssen sie ihre Kinder zur Arbeit schicken oder einfach zur eigenen mitnehmen, damit sie bei der Akkordarbeit die festgelegte Norm überhaupt schaffen.

Die Besitzer von Fabriken, Reisfeldern, Teeplantagen wollen die Menschen in Armut halten, denn nur dann können sie die Menschen ausbeuten. Und nur dann kommen sie an deren Kinder heran, die sie für ihre Profite brauchen. Kinder sind billig und meistens können sie sich nicht wehren. Kinder erhöhen die Gewinnspanne. Das ist das Geschäftsmodell. So einfach. So brutal.  Wir erfahren, dass es Kinder-Beschaffer gibt, die für die Produzenten gezielt in Schulen und Kindergärten gehen, um Ausschau zu halten nach kleinen Menschen, denen sie die Kindheit klauen können. Am besten eignen sich solche mit armen Eltern, vielleicht mit lockerer oder gestörter Bindung zur Familie. Dann haben sie eine Chance: frische «Ware» zu beschaffen für die Unternehmer, in deren Auftrag sie unterwegs sind.

30.000 Kinder in der Schule statt bei der Arbeit

Martin Kasper will dieses Geschäftsmodell kaputtmachen. Er will mit seinem «Child Aid Network» den Kreislauf der Armut durchbrechen. Er sagt, dass er schon 30.000 Kinder und Jugendliche aus den Teegärten der Region herausgeholt und ins staatliche Schulsystem integriert hat. Man kann sich vorstellen, dass dieser Mann unter den Unternehmern der Region wenig Freunde hat.

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Reportage

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Wenig später stehen wir am Rand der Großstadt Guwahahti auf dem Gelände eines Steinbruchs. Aus der hinter uns liegenden Hügelkette werden große Felsbrocken herausgebrochen, in motorgetriebenen Steinmühlen werden die Brocken zerkleinert und schließlich zu Kies und Schotter für den Straßenbau verarbeitet. Die Steinmühlen kreischen und scheppern, der Lärm ist unerträglich. Eine dicke Staubschicht legt sich auf alles, auf die Blätter der Bäume, auch auf die Lungenflügel der Menschen, die hier arbeiten – arbeiten müssen. 15 Prozent aller Granite, Sandsteine, Marmore und Kalksteine stammen aus Indien. Wenn wir in Deutschland unsere Gärten und Garagenauffahrten mit Schottersteinen verschönern oder einen würdigen Grabstein für die verstorbene Oma aussuchen – dann kann es gut sein, dass das Material dafür hier gewonnen wird, in Steinbrüchen wie diesen. Alles hat im Kapitalismus seinen Preis. Und wenn wir ihn nicht zahlen oder nur einen sehr niedrigen – dann müssen ihn andere zahlen. Zum Beispiel die Arbeiter im Steinbruch von Guwahati mit ihrer Gesundheit.

Ein kleiner Junge im knallgelben T-Shirt steht vor uns, er heißt Habisulali, er sagt, er sei zwölf Jahre alt. Er hat hier gearbeitet, er musste die schweren Gesteinsbrocken auf die Steinmühle wuchten. Anderthalb Jahre lang Knochenarbeit, die schon einen Erwachsenen an seine Grenzen bringt. Ein Kind, das nicht Kind sein durfte, das nicht zur Schule gehen konnte, um Lesen und Schreiben zu lernen, das nicht um sein Rechte wusste – also genau das, was die skrupellosen Betreiber solcher Steinbrüche suchen: billigstes Menschenmaterial.

Schon Siebenjährige schuften im Steinbruch

So wie Habisulali arbeiteten hier noch vor wenigen Jahren Dutzende Kinder, erzählt Martin Kasper, der Kinderrechts-Aktivist. Sie wohnten mit ihren Familien in armseligen Hütten am Rande des Steinbruchs. Die jüngsten, die hier schuften mussten, seien sieben Jahre alt gewesen und ihre kleinen Hände, so erinnert er sich, waren von den scharfkantigen Steinen ganz zerkratzt und vernarbt und ihre Haare von einer dicken Staubschicht bedeckt. «65 Kinder haben wir rausgeholt. Wir haben mit ihren Eltern gesprochen, sie dann unter die Dusche gestellt und in die Schule gebracht.» Also dahin, wo Kinder im Alter von sieben Jahren eigentlich hingehören.

Kinder schleppen oft Steine zu einer Mühle, die Schotter und Kies herstellt

Kinder schleppen oft Steine zu einer Mühle, die Schotter und Kies herstellt

Inzwischen arbeiten im Steinbruch von Guwahati keine Kinder mehr. Irgendwann wurde das, was hier geschah, an die Öffentlichkeit gebracht, von Journalisten und Hilfsorganisationen. Öffentlichkeit aber mögen die Profiteure der Kinderarbeit nicht. Als wir den Steinbruch besichtigen, an einem Werktag gegen Mittag, ist er fast menschenleer, während unten in der Stadt aber überall gearbeitet wird. Nur drei, vier Arbeiter wuchten die schweren Brocken in die kreischende Zerkleinerungsmaschine. Am Tag vorher sah es noch anders aus, erzählt Martin Kasper. Er sagt, dass er, bevor der Minister aus Deutschland kam, «inkognito» hier war und Fotos gemacht hat. Seine Fotos zeigen ein Gewimmel von Arbeitern. Auch viele Frauen sind darunter.

Auch wenn hier, in diesem Steinbruch keine Kinder mehr arbeiten: Es gibt viele andere in Indien, auch viele Nähereien, Restaurantküchen, Wäschereien, Kohleminen. Dort kann man billige, fleißige Kinderhände weiterhin gut gebrauchen. Und unten im Tal, in den verdreckten Elendsquartieren von Guwahati, durch die wir auf dem Weg hierher gefahren sind, wachsen schon die nächsten kleinen Arbeitskräfte heran.

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