Was ein guter Groove ist, merkt man meistens erst, wenn man ihn hört. Es zu erklären, ist komplizierter. In den Welten höherer Schlagzeugesoterik würde man vielleicht sagen: Wenn der Rhythmus auch in seinen Leerstellen zwischen den Schlägen atmet, wenn nicht alles voller Noten hängt, wenn nichts überspielt und nicht jede Ecke des Taktes vollgerümpelt ist – dann, ja, dann könnte der Groove gut sein.
Das Album For a Colorful Soul ist sehr reich an solchen Momenten. Es ist, das kann man sagen, ohne der Band Nevell zu nahe zu treten, eine echte, eine obendrein fantastische Schlagzeugplatte, und es spielt darauf eine der besten Schlagzeugerinnen, die man zurzeit hinter diesem Instrument antreffen kann: Anika Nilles, 36 Jahre alt. For a Colorful Soul ist ihr zweites Album. Instrumentalpop könnte man es nennen. Vielleicht Fusion. Viel Funk, ab und zu quengelt sich ein Synthesizer hinein. Ihr Album schaffte es in die Top drei der amerikanischen iTunes-Charts für Jazz. Ein Album von einer Musikerin aus Mannheim wohlgemerkt, die hierzulande wohl nur Spezialisten kennen.
Für ihre rhythmische Intelligenz wird Anika Nilles seit Jahren weltweit in Fachmagazinen bewundert. Ihr großes musikalisches Vokabular, ihre Ausdruckskraft und Leichtigkeit, ihre sehr geschmackvollen, feinsinnigen Schlagzeugkompositionen und überraschend explosiven Drumfills – all das schwingt auch durch die neun Stücke ihres neuen Albums. Und dann ist da der Klang der Becken, trocken, nachtjackendunkel.
Anika Nilles probt in einem Industriegebiet im Norden Mannheims, in einem Gebäude mit schmalen Gängen und vielen Türen. An einem Tag im Herbst bittet sie herein: «Es ist ein wenig unordentlich», sagt sie, auf dem Boden die Holzspäne von zerschlissenen Drumsticks, in der Ecke Wasserflaschen. Hier übt sie täglich, manchmal bis zu sechs Stunden. Gerade kommt sie aus Frankfurt, das habe ein wenig gedauert. Sie brauchte ein Visum für Kanada und die USA. Ihre Auftritte dort seien bereits fast alle ausverkauft. In der internationalen Schlagzeugszene ist Anika Nilles berühmt. In Deutschland muss man ihren Wikipedia-Eintrag erst noch aus dem Englischen übersetzen. Dabei hat hier ja alles angefangen.
Zehn Jahre Studium
Nilles wurde in Aschaffenburg geboren, noch Bayern oder schon Bayern, je nachdem, von wo man guckt. Kindheit im Musikkeller des Vaters, der war selbst Schlagzeuger, Autodidakt. Er wollte, dass sie es richtig von Grund auf lerne. Also: Musikschule und Musikverein, Märsche und Polkas, das strenge Rechte-Hand-linke-Hand-rechte-Hand-linke-Hand, der übliche Etüdenverdruss. Als Kind, sagt sie, habe sie Üben gehasst. «Ich hatte damals eigentlich schon richtig Lust auf Rockmusik.»
Nilles ist groß geworden mit dem frühen Michael Jackson, groß geworden mit der Band Toto, in der Jeff Porcaro trommelte, einer der Majestäten des Shuffles, der Akzentuierungen, der Dynamik. Mit 13 hatte sie ihre erste Band, ihre Mitmusiker waren allesamt älter, 18, 19, alle vom musischen Gymnasium: Taktwechsel, Doublebass. Ohne üben unmöglich.
Männer könnten noch als 50-Jährige in der Backingband von einem jungen Hüpfer auftreten, sagt Anika Nilles. Bei einer Frau spiele «leider immer noch dieses scheiß Aussehen mit». © Anne Ackermann für ZEIT ONLINE
Eine typische Musikerinnenkarriere begann hier trotzdem nicht. Sie sollte etwas Richtiges lernen, sagt Anika Nilles. Nach der Schule wurde sie Erzieherin. Mit 20 leitete sie einen Kindergarten. Sie trug Verantwortung für 100 Kinder, für Kollegen und die musikalische Früherziehung. Nebenbei gab sie Unterricht, fünf Tage die Woche. Manchmal, sagt sie, habe sogar die Zeit gefehlt, in den Supermarkt zu gehen. Dann versuchte sie es doch und bewarb sich an der Popakademie in Mannheim. Aufnahmeprüfung bestanden, sie war 26, die Älteste im Jahrgang. Und sie war die erste Frau, die dort je in der Schlagzeugklasse angenommen wurde. «Plötzlich saß ich mit Jüngeren da, die viel besser waren als ich. Ich war bis dahin nie so ehrgeizig. Wichtiger war immer, was ich dabei gefühlt habe, wenn ich spiele.»
Zehn Jahre war sie dort eingeschrieben. Für den Abschluss hatte sie lange keine Zeit, zu viele Auftritte, zu viele Reisen. Erst Ende des vergangenen Jahres bekam sie ihre Note: 1,0.
Als YouTuberin würde sie sich nicht bezeichnen
Ihr Erfolg ist auch eine Geschichte der sozialen Medien. «Viele planen ja so eine Karriere, aber bei mir war das überhaupt nicht geplant», sagt sie. Im Jahr 2013, als Studentin, nahm Nilles ihre Eigenkomposition Wild Boy als Video auf. «Ich musste mir das 30.000-mal angucken, immer mit Abstand dazwischen, um irgendwann sagen zu können: Ach, es ist wirklich doch cool.» Ein halbes Jahr lang habe sie gezögert, bevor sie es auf YouTube hochlud. Dann habe sie zusehen können, wie die Zugriffe immer mehr wurden, relativ schnell waren es eine Million. Viele Magazine teilten das Video, weltweit berühmte Schlagzeuger, bald kam die Nachricht von Aaron Spears, der für den Sänger Usher spielt, einem der besten Popdrummer des Planeten. Sie sei damals halb von der Couch geflogen, erzählt Nilles.
Die amerikanische Modern Drummer, das weltweit einflussreichste Schlagzeugmagazin, hob sie aufs Titelblatt. Sie war die fünfte Frau in knapp vier Jahrzehnten. Aus Deutschland haben es überhaupt erst zwei Musiker vor ihr geschafft. Die Titelzeile lautete: «Welcome to the New Age«, und die Zeitschrift rief eine neue YouTube-Generation am Schlagzeug aus. «Das war schon die Krönung», sagt Anika Nilles. Obwohl: Als YouTuberin würde sie sich nie bezeichnen. Ihre eigentliche Arbeit finde dort ja nicht statt und allein davon leben könne sie auch nicht. Außerdem lade sie im Jahr höchstens drei Videos hoch.
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