SPIEGEL: Herr Kuipers, die Uefa hat eine neue Dokumentation über Schiedsrichter (»Man in the Middle«) herausgebracht, und in einer Szene sieht man, wie Sie Barcelonas Superstar Lionel Messi anbrüllen, ihm sagen, er soll keine Zeit schinden und etwas mehr Respekt zeigen. Wie fühlt es sich an, Messi im vollen Camp Nou zusammenzufalten?
Kuipers: Für Sie mag sich das vielleicht fremd oder spektakulär anfühlen. Für mich ist das normal. Ich muss Messi auch mal anschreien, das gehört zu meinem Job. Ich habe mit ihm und auch mit keinem anderen Spieler deswegen aber irgendeine Rechnung offen, ich muss in solchen Situationen also keine Wut oder so abbauen. Ich will nur, dass das Spiel schnell weitergeht. Daran muss man die Profis manchmal erinnern.
SPIEGEL: Die Zehntausenden Fans feiern Messi in diesem Moment – und Sie werden ausgepfiffen. Nun ist es so, dass im Zuge der Coronakrise kaum oder keine Zuschauer in die Stadien dürfen. Fankritik an Schiedsrichtern gibt es aber in sozialen Netzwerken. Lesen Sie die?
Kuipers: Viele Schiedsrichter machen das tatsächlich. Ich habe aber kein Twitter, Facebook oder Instagram. Es ist vielleicht ein bisschen Selbstschutz, aber es ist doch auch so: Was soll ich dort erfahren? Ich werde wohl kaum lesen, dass ich ein tolles Spiel gemacht habe, sondern nur, was alles falsch gewesen sein soll. Darüber kann man dann ewig diskutieren, jeder, auch ein völlig Ahnungsloser, darf etwas sagen, ohne dass wir am Ende zu einem klaren Ergebnis kommen. Ich höre mir gern Kritik an, aber nur von Fachleuten: von meinen Chefs und meiner Frau.
Björn Kuipers, 47, ist ein niederländischer Schiedsrichter, der Partien bei mehreren Welt- und Europameisterschaften geleitet hat, auf Vereinsebene war er unter anderem der Finalreferee des Champions-League-Endspiels 2014 zwischen Real Madrid und Atlético. Kuipers gilt als einer der besten Unparteiischen der Welt. Abseits des Platzes hat der Niederländer einst Betriebwirtschaftslehre studiert, ihm gehören heute mehrere Supermärkte. Bereits Kuipers Vater war Schiedsrichter. Kuipers ist einer von mehreren Schiedsrichtern, die in der Uefa-Dokumentation «Man in the Midle» von TV-Kameras begleitet werden.
SPIEGEL: Schiedsrichter sind inzwischen mit diverser Technik ausgestattet: Headset, Toralarm, Pulsuhr. In welchen Situationen auf dem Platz schlägt Ihr Herz besonders schnell?
Kuipers: Wenn nach einem Eckball ein Konter entsteht und ich plötzlich in die andere Richtung sprinten muss, dann rast auch der Puls.
SPIEGEL: Okay, das ist bei jedem so. Sonst kann Sie nichts aus der Ruhe bringen?
Kuipers: Durch den Videoassistenten und die Möglichkeit, dass jede kritische Entscheidung überprüft werden kann, bin ich deutlich entspannter geworden. Kritische Momente wie Elfmeter entspannen mich zum Beispiel eher: Foul, Pfiff, Warten auf den VAR, da kann ich auch mal kurz zur Ruhe kommen. Was aber anstrengend ist, sind kritische Momente in den ersten Minuten, wenn man sofort ran muss. Das sind echte Belastungsproben, auch für den Kopf.
SPIEGEL: Was passiert mit Ihnen, wenn Sie in der Halbzeitpause feststellen, dass Sie eine klare Fehlentscheidung getroffen haben?
Kuipers: Durch den VAR passiert das zum Glück eigentlich nicht mehr. Ich erinnere mich aber bis heute, dass ich 2015 Zlatan Ibrahimović in einem Champions-League-Spiel zwischen Paris und Chelsea nach 31 Minuten zu Unrecht vom Feld geschickt habe. Das war keine Rote Karte, sondern Gelb. Ein Fehler, den ich direkt eingestanden und mich auch noch in der Pause bei Ibrahimović entschuldigt habe. Aber ich konnte das nicht mehr rückgängig machen.
SPIEGEL: Neigt man in solchen Momenten dazu, möglicherweise unbewusst, die in der ersten Hälfte benachteiligte Mannschaft in der zweiten Hälfte zu bevorteilen? Stichwort: Konzessionsentscheidung.
Kuipers: Ich hoffe, das macht niemand. Es ist doch ganz einfach: Auf den einen Fehler würde bloß ein zweiter Fehler folgen. Dann hätte man nicht nur ein schlechtes Spiel gepfiffen, sondern ein wirklich richtig schlechtes.
SPIEGEL: Es klingt insgesamt ein bisschen so, als sei Ihr Job durch den VAR weniger aufregend geworden.
Kuipers: Und das ist doch eine ziemlich gute Entwicklung. Ich persönlich brauche diese Aufregung nämlich nicht. Je weniger Fehler, desto besser ist das. Ich kann Kritik am VAR aber auch nachvollziehen, manchmal dauert es zu lange, bis wir eine Entscheidung getroffen haben. Man darf aber auch nicht vergessen, dass diese Technologie immer noch eine neue ist – wir lernen noch.
SPIEGEL: Welchen Spielertypen finden Sie anstrengender: Einen wie Sergio Ramos, der immer wieder mit versteckten Fouls arbeitet und die Grenze des Erlaubten austestet, oder eher einen wie Jadon Sancho, der verdammt schnell ist und häufig gefoult wird.
Kuipers: Eindeutig Spieler wie Sancho, das sind die schwierigsten. Man müsste praktisch so schnell sein wie er, jeden Kontakt gegen ihn müsste man überprüfen, aber da kommt man nur schwer hinterher, und deswegen ist der VAR auch in solchen Fällen eine Hilfe. Mit Sergio Ramos habe ich hingegen gar kein Problem. Der ist ein Fachmann, eine große Persönlichkeit, die immer gewinnen will. Solche Spieler schätze ich sehr.
SPIEGEL: Gab es Spiele in Ihrer Karriere, nach denen Sie am liebsten hingeworfen und aufgehört hätten?
Kuipers: Die gab es, aber da war ich noch ein junger Schiedsrichter, der Spiele in unteren Klassen und ohne Assistenten leiten musste. In dieser Zeit war für mich der Druck am größten, und in diesen Jahren war es für mich wichtig, dass mich nach Fehlern jemand aufgefangen hat. Meine Familie oder meine Chefs, die auch mal gesagt haben: »Lass’ es gut sein, Fußball ist nicht alles.« Du brauchst ein starkes Umfeld, um als Schiedsrichter zu bestehen. In den vergangenen zehn Jahren habe ich nicht mehr ans Aufhören gedacht. Ich habe heute ein tolles Team um mich, ich selbst bin entspannter geworden und habe einfach großen Spaß am Pfeifen.
SPIEGEL: Sind die besten Schiedsrichter die, die am Ende Ihrer Karriere die meisten Endspiele gepfiffen haben?
Kuipers: Nein, gar nicht. Der beste Schiedsrichter ist der, der in seiner Karriere am wenigsten auf dem Platz aufgefallen ist. Wenn ein Fan nach dem Spiel fragt, wer hat eigentlich gepfiffen, dann ist das ein schönes Kompliment.
SPIEGEL: Sie hoffen auf die Teilnahme für die EM 2021, das wäre dann auch Ihr letztes großes Turnier als Schiedsrichter. Soll das Fazit danach lauten: Björn Kuipers fiel als Schiedsrichter nie auf?
Kuipers: Das klingt in Ordnung. Mein eigenes Karrierefazit fällt aber viel länger aus: Der Fußball hat mich durch die ganze Welt gebracht. Man darf den Job als Schiedsrichter nicht nur auf die 90 Minuten reduzieren, die Angelegenheit ist viel größer mit all den Reisen, Lehrgängen und Bekanntschaften. Egal, was jetzt noch kommt, ich bin ziemlich zufrieden. Aber ich träume noch von einem EM-Finale.
SPIEGEL: Wenn Sie eine Regel in Ihrer aktiven Karriere noch verändern dürften, welche wäre das?
Kuipers: Ich würde lieber eine einführen. Ähnlich wie beim Hockey sollte es auch im Fußball erlaubt sein, dass ein Spieler einen Freistoß ausführt und den Ball auch noch danach mit einem zweiten Kontakt halten darf. Also, dass sich der ausführende Spieler den Ball selbst vorlegt und zupasst. Ich glaube, das Spiel würde dadurch erheblich schneller werden – und das würde ich begrüßen. In so vielen Partien haben wir gerade mal eine Nettospielzeit von vielleicht 50 oder 55 Minuten. Das ist doch für ein Fußballspiel viel zu wenig.
Source: spiegel.de
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