Statt Schnee und Kälte wird in den Alpen in diesem Winter das Coronavirus bestimmen, wie die Saison verläuft. Die Regeln, die die Skigebiete beschlossen haben, werden einigen Ski-Fans zu locker, anderen zu streng sein. Mit fremden Menschen eng an eng in einer Gondel sitzen, noch dampfend und schwitzend von der letzten Abfahrt? Gedränge beim Anstehen an den Liften und in den Hütten? Vielen gefällt die Vorstellung nicht.
Wer auf Spaß im Schnee nicht verzichten will, landet schnell beim Thema Skitouren — das wird auch nach dem in Deutschland zunächst für November verhängten Shutdown wieder so sein. Nirgendwo lässt sich Social Distancing besser einhalten: beim Aufstieg mit Fellen unter den Skiern im freien Gelände, bei der Abfahrt im jungfräulichen Pulverschnee – weit weg von den Massen, stets an der frischen Luft. Und das Beste dabei: Man spart sich die Kosten für den teuren Skipass.
Foto: Daniel Hug / DAV
So weit die Theorie. In der Praxis sah das schon lange vor Corona anders aus: Entlang des bayerischen Alpenrandes und vor allem auf den Münchner Hausbergen drängten sich an Wochenenden dreistellige Zahlen von Tourengehern am Gipfel. Modetouren waren so hoffnungslos überlaufen, dass man von Einsamkeit und Stille nur noch träumen konnte. Und statt stiebendem Pulverschnee gab es eine von vielen Brettern durchpflügte Abfahrtsstraße, die sich von einer normalen Piste kaum noch unterschied.
Skitouren sind zum Trendsport avanciert. Einige Sportfachhändler in Oberbayern machen mit dieser Spezialausrüstung inzwischen mehr Umsatz als mit Alpin-Equipment. «Skitouren werden diese Saison boomen, die Kapazitäten am Berg bleiben aber knapp», prophezeit Andreas Erkens, Redakteur beim Fachmagazin «Alpin». «Das wird massive Probleme verursachen. Bei der Infrastruktur, auf den Hütten, auf Touren und im Tal.»
Einen Vorgeschmack gab es bereits an einem Wochenende Mitte Oktober: In Teilen der Alpen hatte es kräftig geschneit, vielerorts zogen Skitourengeher ihre ersten Schwünge in den Tiefschnee. An der italienischen Marmolata, dem höchsten Gipfel der Dolomiten, herrschten offensichtlich gute Tourenbedingungen. Ein Video auf Facebook zeigt, wie sich Hunderte Skitourengeher im Aufstieg befinden. Die Bilder erinnern an eine Ameisenstraße und ähneln den Aufnahmen am Mount Everest, wo an guten Tagen Gipfelaspiranten Schlange stehen. Nun fürchten viele, die Szenen könnten sich an anderen Bergen wiederholen.
Kein Platz mehr in Oberbayern
Sollte die Aufforderung der Bundesregierung und Bayerns, auf private Reisen und auf Tagesausflüge zu verzichten, und das Übernachtungsverbot für Urlauber nach und nach für den gesamten Winter gelten — dann könnte es wieder ruhig werden in den bayerischen Bergen. Ansonsten rechnet Andrea Händel, Kommunikationschefin beim Deutschen Alpenverein (DAV) in München, mit einem «schwierigen Winter»: «Der Druck ist da.»
Beliebte Reviere — das sind vor allem solche mit einem hoch gelegenen und damit schneesicheren Ausgangspunkt – müssten sich auf einen Ansturm einstellen. In Spitzingsee im Landkreis Miesbach werde deshalb überlegt, bestimmte Zonen für Tourengeher zu sperren. Wie das geht, wo doch das freie Betretungsrecht der Natur in der Bayerischen Verfassung festgeschrieben ist? Nun ja, man weist einfach neue Wildschutzzonen aus. Wer diese trotzdem betritt, riskiert eine Anzeige.
«Es fehlt uns in Oberbayern einfach an Fläche», sagt Händel. Ausweichen über die Grenze nach Österreich sei keine Option, wenn, wie aktuell, Tirol, Vorarlberg und das Land Salzburg als Risikogebiete gelten. Außerdem boome ja nicht nur das Tourengehen. Händel erwartet auch mehr Schneeschuhgeher und Winterwanderer. Viele davon seien unerfahren, ihnen fehle das alpine Basiswissen. Sie könnten die Lawinengefahr nicht richtig beurteilen.
Der DAV will deshalb in den nächsten Wochen gezielt Tipps kommunizieren, die den Ausflug in die freie Wildbahn zum sicheren Genuss werden lassen. Im Fokus werde dabei auch eine nachhaltige Anreise stehen, um Staus auf den Zufahrtsstraßen und wildes Parken zu vermeiden. Soll heißen: lieber zwei oder drei Tage losziehen und im Tourengebiet übernachten, anstatt jeden Tag von der Stadt in die Berge zu pendeln.
Zunächst für den November sind Übernachtungen aufgrund der jüngsten Corona-Maßnahmen sowieso nicht möglich — eine Verlängerung ist wahrscheinlich. Aber auch ohne die verschärften Regeln wäre ein Mehrtagestrip angesichts der schnell ausgebuchten Hütten des DAV schwierig. Schon im Sommer war es auf beliebten Häusern zu Engpässen gekommen, weil wegen strenger Hygiene- und Abstandsregeln viele Betten und Lager leer bleiben mussten. In der kalten Jahreszeit, wenn zum Essen nicht auf die Terrasse ausgewichen werden kann, dürfte es in den Schutzhütten noch enger werden — sollten sie wieder Übernachtungsgäste aufnehmen dürfen.
Besonders schlaue Sportler würden sich deshalb gern in den unbewirtschafteten Winterräumen der AV-Hütten einquartieren, die stets offen sind. Doch Händel erteilt dieser Idee eine klare Absage: «Ohne Reservierung und Aufsicht lassen sich Abstands- und Hygieneregeln nicht überwachen. Der DAV hat sich deshalb diesen Winter gegen eine touristische Nutzung entschieden.» Konkret heißt das: Die Winterräume bleiben offen für Notfälle, allerdings gibt es dort weder Decken noch Feuerholz. Geplante Übernachtungen seien definitiv nicht erlaubt.
Webseite «Ausflugsticker» zur Besucherlenkung
Es ist also gar nicht so einfach, das tägliche Pendeln zwischen Wohnort und Tourengebiet zu vermeiden. Das sagt auch Andreas Wüstefeld, Leiter von Tölzer Land Tourismus. Abgesehen von den momentanen Corona-Maßnahmen: «Wir würden ja gern mehrtägige Pakete für Tourengeher und andere Winterurlauber schnüren, inklusive Übernachtungs-Option. Aber uns fehlen schlicht die Kapazitäten, die Betten in Hotels und Pensionen.»
Außerdem sei es auch in normalen Zeiten gar nicht so einfach, Tagesgäste zum Bleiben zu bewegen. «Uns überholt das Thema», sagt Wüstefeld. «Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, das lässt sich lösen. Jetzt kriegen wir das nur hin, wenn sich alle Touristiker in Oberbayern gemeinsam an einen Tisch setzen und Lenkungskonzepte erarbeiten, die nicht einzelnen Regionen den Schwarzen Peter zuschieben. Unsere eigenen Instrumente sind überschaubar, jenseits von Parkverboten und dem Ausweisen neuer Schutzzonen.»
«Wir machen einfach keine Werbung für Skitouren. Punkt.»
Bei Tourismus Oberbayern-München e.V. gab es jüngst diesen Runden Tisch. Allerdings kam wenig dabei heraus, außer einer Einigung darauf, Skitouren nicht aktiv zu bewerben. Tenor: Die Skitouristen kämen ohnehin, da könne man nichts machen. Cindy Peplinski, die PR-Referentin des Verbandes, sagt dazu: «Die Einheimischen haben in Oberbayern eben eine starke Stimme.» Mal wird über zu viele, dann wieder über zu wenige Gäste gejammert. Immerhin: Es gibt jetzt den «Ausflugsticker», der in Echtzeit darüber informiert, wo gerade wie viel Andrang herrscht. Peplinski sagt, die Webseite sei noch nicht perfekt, aber ein guter Anfang, um Besucherströme künftig besser zu lenken.
Dennoch klingt das alles ein bisschen nach Kapitulation vor dem drohenden Ansturm. Wüstefeld, der Mann aus dem Tölzer Land, sagt: «Wir machen einfach keine Werbung für Skitouren und geben keine Routentipps. Punkt.» Und fügt fast trotzig hinzu: «Wir brauchen einen Winter mit viel Schnee bis in tiefe Lagen. Dann verteilen sich die Leute besser.»
Dann schiebt er nach: «Viel Sonne wäre aber auch nicht schlecht. Denn dann trauen sich vielleicht doch viele in die Pistenreviere und kommen erst gar nicht auf die Idee, auf Skitouren umzusatteln.» Wüstefeld verhehlt nicht, dass er sich etwas allein gelassen fühlt. Auch von der Skiindustrie, die mit dem Trendsport Tourengehen viel Umsatz mache, aber keinen rechten Plan habe, wo sich die vielen Neulinge austoben sollen.
Skitour am Pistenrand
Etwas entspannter sieht die Situation Philipp Holz, Tourismusmanager der Zugspitz-Region: Erstens könne man den freien Naturraum nicht einfach zusperren. Zweitens sei nicht jeder klassische Pistenfahrer der geborene Tourer. «Dazu braucht es Kondition und Technik, die nicht jeder hat.» Das gelte grundsätzlich auch für das Aufsteigen am Pistenrand in Skigebieten. Außerdem sei die Ausrüstung teuer, das beim Skipass gesparte Geld amortisiere sich erst nach Jahren.
Trotzdem hat auch Holz – bevor die Corona-Maßnahmen verschärft wurden – für diesen Winter einen Ansturm erwartet: «Das liegt im Trend, ganz klar. Einsteiger sollten aber einen Kurs buchen.» Oder eben nur in der eigenen Komfortzone unterwegs sein. Das gelte auch für Schneeschuhgeher und Winterwanderer, bei denen Holz ebenfalls ein Plus erwartet. «Am besten, man bleibt auf geräumten Wegen und ausgewiesenen Routen.» Denn weiter oben sei die Lawinengefahr ähnlich hoch wie beim Tourengehen.
«No Friends on Powder Days!»
Keine Lawinen drohen beim Tourengehen am Pistenrand. Vielen Betreibern von Skigebieten sind die «Aufsteiger» jedoch per se ein Dorn im Auge, nicht erst seit Corona. Im Classic-Gebiet von Garmisch hatte man sich nach langen Diskussionen auf einen Kompromiss geeinigt: Es gibt eine separate Aufstiegsspur, jeden Dienstag und Donnerstag ist Hüttenabend für Tourengeher auf der beliebten Drehmöser 9, die den Bayerischen Zugspitzbahnen gehört.
Ob es diese Veranstaltungen, die nicht nur ein sportliches, sondern vor allem auch ein soziales Event mit dreistelligen Besucherzahlen sind, diesen Winter überhaupt geben wird, ist noch offen, sagt Verena Altenhofen von den Zugspitzbahnen. Immerhin: Die Aufstiegsspur bleibe bestehen, und eine geplante happige Parkgebühr für Tourengeher an der Hausbergbahn sei, zumindest für diesen Winter, vom Tisch.
Trotzdem werden sich die Drehmöser-9-Freunde ihren Tourenspaß nicht vermiesen lassen. Entweder fahren sie dann in andere Skigebiete, um zu ihrem Abend-Workout zu kommen. Oder sie weichen tatsächlich in die freie Wildbahn aus. Wo es dann noch enger wird. Das bekannte Motto der Pulverschnee-Fraktion – «No Friends on Powder Days!» – bei Puverschnee ist sich jeder selbst der Nächste — könnte diesen Winter ganz neue Aktualität erlangen.
Source: spiegel.de
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