Das Chaos um die gescheiterte Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) ist offenbar noch viel größer als bislang angenommen. Nach Rechtsmeinung des Justizministeriums in Baden-Württemberg könnten alle Neufassungen der Verordnung seit dem Jahr 2009 wegen eines Zitierfehlers «unwirksam» sein. Das würde bedeuten, dass nur die StVO-Fassung aus dem Jahre 1970 gültig ist und entsprechende neuere Regelungen etwa zum Telefonieren am Steuer «ins Leere gehen». Das jedenfalls steht in einem brisanten Schreiben des Ministeriums in Stuttgart an die Verkehrsministerien der Länder und des Bundes, das dem SPIEGEL vorliegt und über das auch die «Neue Osnabrücker Zeitung» berichtet.
«Nachdem eine Reihe von Vorschriften durch die zwischenzeitliche Änderung betroffen seien, entstehe ein nicht unerhebliches Maß an Rechtsunsicherheit», schreibt ein Beamter des Justizministers Guido Wolf (CDU). Für Autofahrer bedeutet dies noch weitere Verwirrung.
Denn schon die Novelle der Straßenverkehrsordnung von diesem Jahr ist wegen eines Zitierfehlers ungültig. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) musste deshalb veranlassen, bereits eingezogene Führerscheine wegen Geschwindigkeitsübertretungen wieder zurückzugeben. Auch Strafverschärfungen bei Rechtsverstößen von Autofahrern an Fahrradwegen sind davon betroffen.
Zahlreiche Autofahrer könnten gegen Punkte klagen
Sind auch ältere Novellen wie die aus dem März 2013 nebst allen weiteren und kleineren Änderungen der Jahre davor und danach hinfällig, dann wäre ab sofort Telefonieren während der Fahrt erlaubt. Wer seine Kinder mit dem Kindersitz nicht anschnallt, ginge straffrei aus. Elektroscooter dürften nicht mehr fahren, weil die betreffende Rechtsverordnung von dem Zitierfehler betroffen ist. Auch eine Prozesswelle könnte den deutschen Gerichten ins Haus stehen: «Zu erwarten ist, dass Autofahrer versuchen, Punkte in Flensburg auf dem Gerichtswege wieder zu tilgen», sagt der Heilbronner Verkehrsanwalt Stephan Lay.
Auf SPIEGEL-Anfrage erklärte das Bundesverkehrsministerium, «die Verordnung zur Neufassung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 6. März 2013» leide «nicht an einem Zitierfehler».
Das Justizministerium Baden-Württembergs spart in seinem Schreiben nicht mit Kritik an den Beamten Scheuers: Diese sollten «einen zeitnahen und vor allem sorgfältig gefassten Neuerlass der Straßenverkehrsordnung mit einem vollständigen Zitat der Ermächtigungsgrundlage» vorlegen. Um eine solche Neufassung, die immerhin die Rechtsschludrigkeit der aktuellen Novelle heilt, gibt es derzeit Streit zwischen Bundesverkehrsministerium und grün mitregierten Ländern. Die wollen einen Kompromissvorschlag für die korrekte StVO-Novelle am 18. September im Bundesrat zu Fall bringen.
Der Streit entbrannte um die Frage, bei welchen Geschwindigkeitsverstößen der Führerschein für einen Monat entzogen werden soll. In der Novelle, die Ende April in Kraft trat, sollte innerorts bei mehr als 21 und außerorts bei 26 Kilometern in der Stunde ein Fahrverbot verhängt werden. Nach einer Kampagne des ADAC wollte der glücklose Bundesverkehrsminister diese Regelung am liebsten wieder kippen. Dann entdeckte man die falsche Zitierung in dem Gesetz.
Scheuer nahm dies zum Anlass, einen neuen Vorschlag zu machen. Demnach soll der Führerschein nur dann beim ersten Geschwindigkeitsverstoß weg sein, wenn man vor einer Schule oder Kindergarten oder auf der Autobahn in einer Baustelle mit 21 oder 26 Kilometern pro Stunde zu viel zu schnell ist. Einige Tausend Autofahrer bekamen ihre Führerscheine, die sie nach Inkrafttreten der StVO-Novelle abgegeben haben, wieder zurück. Das verursacht noch immer ein erhöhtes Arbeitsaufkommen in den Verkehrsbehörden. Dieses könnte sich in den nächsten Monaten wieder erhöhen, zumindest dann, wenn sich die Sichtweise des baden-württembergischen Justizministeriums durchsetzt.
Der FDP-Verkehrspolitiker Oliver Luksic sagte dem SPIEGEL, Bundesverkehrsminister Scheuer drohe womöglich Anarchie im Verkehrsrecht. «Wenn sich die Einschätzung Baden-Württembergs bestätigen sollte, dann haben Bund und Länder jahrelang davor die Augen verschlossen», so Luksic.
Source: spiegel.de
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