Eine Frau mit violett-blond gefärbten Strubbelhaaren hüpft von einem großen Stein auf den Strand, im Hintergrund Graffiti-Mauern und israelische Nationalflaggen. Zwei schwarz gekleidete Frauen laufen im Gespräch miteinander vor der Kulisse von Manhattan am Ufer des Hudson Rivers entlang. Und vor dem grauen Himmel über Berlin steigt eine hochgewachsene, leuchtend rothaarige Frau mit Sonnenbrille die Ufertreppe hinunter zur Spree.
Keine Minute braucht Regisseurin und Autorin Evelyn Schels, um die vier Protagonistinnen ihres Films vorzustellen, die israelische Bildhauerin und Videofilmerin Sigalit Landau, die iranische Fotokünstlerin Shirin Neshat, die serbische Performerin Marina Abramović und die deutsche Fotografin Katharina Sieverding. Noch hört man die Frauen nicht sprechen, aber die Bilder erzeugen einen Sog, mehr über diese Vier wissen zu wollen. Warum sind sie in diesem Film? Und was haben sie miteinander zu tun?
«Body of Truth» heißt die 90-minütige Dokumentation, die an diesem Donnerstag bundesweit in den Kinos anläuft, mit halbjähriger Corona-Verspätung. Körper der Wahrheit – der Ehrfurcht gebietende Titel fasst zusammen, was die Künstlerinnen eint: die Überzeugung, dass der Leib, anders als der Geist, immer wahrhaftig ist und sich deshalb als künstlerisches Ausdrucksmittel besonders gut eignet, um zu sagen, was gesagt werden muss. Über Politik. Über Religion. Über Gewalt und den Missbrauch von Macht. Und über die Stellung von Frauen, die noch immer zu oft von Unterdrückung geprägt ist.
Foto: Filmwelt
Die Münchner Filmerin hat vier feministische Schaffensprozesse so miteinander verschränkt, dass sie, aus unterschiedlichen Generationen und Kulturen, auf natürliche Weise verbunden scheinen. Verschwistert. Sie wolle, so Schels, einen Dialog herstellen, «zwischen den Biografien der Künstlerinnen, ihren Werken und der Zeitgeschichte».
Dabei prägen die verschiedenartigen Temperamente, Lebens- und Leidenserfahrungen die künstlerischen Ausdrucksformen der Frauen. «Ich war ein heilendes Kind», sagt Sigalit Landau, die 1969 als erste aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden in Jerusalem geboren wurde, in ein Haus mit Verwandten, von denen einige nicht ertrugen, dass sie überlebt hatten, und sich umbrachten. «Ich tanzte im Wohnzimmer und füllte Lücken.» Krieg und Tod im Nahostkonflikt bestimmen seit Jahrzehnten ihren Alltag.
Marina Abramović, 73, lernte von ihren Eltern, die im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatten, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, sich für eine große Idee zu opfern. «Für sie war es der Kommunismus, für mich die Kunst.» Die Mutter schlug das Kind blutig, «ich verstand nicht, warum». Der Vater warf die kleine Tochter ins Meer, um sie schwimmen zu lehren, sie dachte, er wolle sie töten. «Mir wurde klar, dass ich immer allein sein würde, egal was ich tue.»
Todesangst und Überlebensnot auf der Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg prägten die 1943 in Prag geborene Arzttochter Katharina Sieverding. Als der Student Benno Ohnesorg 1967 während einer Demonstration von einem Polizisten erschossen wurde, beschloss sie, mit dem Mittel der Fotografie Widerstand gegen jede Art von Unterdrückung zu leisten: «Ich war wütend auf alle.»
Als Exilantin fühlt sich bis heute Shirin Neshat, 63, die vor der islamischen Machtergreifung im Iran 1979 zum Studieren in die USA emigrierte. Aufgewachsen im Schah-Regime, fühlte sich die Tochter liberaler Eltern durch die religiöse Unterwerfung der Frauen von ihrer Kultur und ihrem Land entfremdet. «Wenn ich zurückschaue», sagt sie, «sehe ich mich als großartiges Beispiel für eine Überlebende.»
«Body of Truth»
Dokumentation
Deutschland/Schweiz 2019
Buch und Regie: Evelyn Schels
Verleih: NFP
Länge: 96 Minuten
Freigegeben: ab 12 Jahren
Start: 10. September 2020
Filmemacherin Schels, bekannt für eindringliche Porträts von Künstlerinnen und Künstlern, darunter Georg Baselitz, Man Ray oder Pola Kinski, enthält sich – wie in ihren Filmen üblich – eines eigenen Kommentars und schafft so Raum für sehr persönliche Lebens- und Arbeitszeugnisse ihrer Protagonistinnen. Unerbittlich sanft, so scheint es, verführt die Interviewerin ihre Alphatiere zur Selbstdarstellung, sichtbar werden fühlbare Wesen hinter den öffentlichen Personen, seien sie vulkanisch wie Abramovic, kontrolliert wie Sieverding, verzaubernd wie Neshat oder offen verletzlich wie Landau. Die Zusammenführung der vier weiblichen Kunstkonzepte, die den Körper oder das Gesicht in den Mittelpunkt stellen, zeigt, wie unterschiedlich eine Ikonografie des Schmerzes aussehen kann.
Abramović, die mal dem Publikum erlaubt, ihren Körper mit Gegenständen zu verletzen (1974), mal selbst ihren Unterleib mit der Rasierklinge ritzt (2007); Neshats überlebensgroße Fotografien von Musliminnen, schwarz verschleiert, schwer bewaffnet, denen die Künstlerin die Gewalterfahrung zwischen Geburt und Tod in ihrer Muttersprache Farsi über die Haut schreibt; Sieverding, die das Elend von Flucht und Vertreibung, das sie selbst erlitt und in aktuellen Flüchtlingsschicksalen wiedererkennt, in ihren Fotoserien festhält; Landau, deren schmaler Körper im Toten Meer in einer gewaltiger Spirale aus Wassermelonen schwimmt, die, teilweise aufgeschnitten, wie riesige Blutgefäße um sie kreisen (2016).
«Body of Truth» bezieht seine Spannung aus mal schnellen, mal ausruhenden Schnittfolgen (Ulrike Tortora) und einer Musik (Christoph Rinnert), die den Film vorantreiben, ohne in den Vordergrund zu treten. Die Kamera (Börres Weiffenbach) kommt den Künstlerinnen nah, aber sie bedrängt sie nicht. Aus den vier Werkbeständen durfte die Regisseurin ikonografische Bilder auswählen. Die Lebensgeschichten der Frauen und die historischen Aufnahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Konflikte fügen sich zu einer Bildererzählung, die sichtbar macht, wie Leid, Schmerz und Überlebenskunst zu Kunst verschmelzen können.
«Du bist eine Kriegerin», sagt die grazile Shirin Neshat zu der mit ihr befreundeten Marina Abramović, deren Bereitschaft, sich immer wieder als Sinnbild weiblicher Selbstverwundung auszustellen, sie bewundert. «Aber wir sind beide sehr verletzlich», fügt sie hinzu und die äußerlich robuste Performerin ist sichtlich berührt. Urgewalt und Verletzlichkeit zu vereinen, dafür müssen Frauen sich immer noch entschuldigen. In diesem Film gehören sie zusammen.
Source: spiegel.de
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