Das Bonner «Büro der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz» gehört bislang zu den weniger beachteten Einrichtungen der Bundesverwaltung. Zu Unrecht, wie sich jetzt zeigt, denn die kleine Einheit in der ehemaligen Hauptstadt ist ein absoluter Vorreiter — beim größten Digitalisierungsvorhaben der Republik. Die kleine Einrichtung, in der Bund und Länder gemeinsam Wissenschaftsförderung betreiben, diente als Pilotprojekt für die Modernisierung der Staats-IT und hat den Prozess erfolgreich abgeschlossen. Ein absolutes Alleinstellungsmerkmal.
Denn außer dem kleinen Pilotprojekt in Bonn ist bisher nichts fertig wie geplant. Bei den meisten Behörden wurde auch fünf Jahre nach dem Start des Mammutprojektes nicht einmal mit den Vorbereitungen für die so genannte «IT-Konsolidierung» begonnen.
Dabei wäre in diesem Jahr eigentlich Halbzeit gewesen. 2015 hatte das Bundeskabinett entschieden, das digitale Nervensystem des Staates zu modernisieren. Das war überfällig, denn es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Die IT der Bundesverwaltung war auf rund 100 Rechenzentren und 1245 Server-Räume versprengt. Jede Behörde beschaffte ihre eigene Technik.
Dass es Zeit und viel Geld brauchen würde, um das Chaos in den Griff zu bekommen, war der Regierung klar. Sie kalkulierte mit einer Gesamtdauer von zehn Jahren und rechnete in ersten Schätzungen mit Kosten von einer knappen Milliarde Euro. Weil es die Verwaltung betraf und nicht die Bürger, lief das Programm lange fast unbemerkt. Genauer gesagt: Es lief nicht.
Fortschrittsbericht ist ein Stillstandsbericht
Als der Bundesrechnungshof Alarm schlug und klar wurde, dass die Kosten auf 3,4 Milliarden Euro zu explodieren drohten, zog der Haushaltsausschuss im Juni 2019 die Reißlinie. Die Abgeordneten sperrten große Teile der Mittel und forderten eine grundsätzliche Neukonzeption. Auf dem Papier wurde diese zum 1. Januar dieses Jahres wirksam.
Nun beschreibt ein als vertraulich eingestufter «Fortschrittsbericht» aus dem August, der dem SPIEGEL vorliegt, was seit der Intervention passierte — und vor allem was nicht. Stillstandsbericht wäre ein treffenderer Titel für das Werk. Die Zwischenbilanz zur Halbzeit des Vorhabens ist politisch brisant – denn mit der Notoperation hat das Bundesfinanzministerium von Olaf Scholz (SPD) im Januar die Verantwortung für den besonders schwierigen Teil des Gesamtprojekts übernommen: die Vereinheitlichung der IT der rund 180 Ministerien und Behörden der Bundesverwaltung. Der Kanzlerkandidat der SPD hat sich damit eine gefährliche Riesenbaustelle ins Haus geholt. Ob er sie besser zu managen vermag als das Bundesinnenministerium von Horst Seehofer, das zuvor die Projektleitung innehatte, muss er noch unter Beweis stellen.
Wohl nichts beschreibt den Zustand des Vorhabens so eindrucksvoll wie die Liste über den Status der einzelnen Behördenprojekte. Unter «abgeschlossen» findet sich nur das kleine Bonner Wissenschafts-Büro. Vier weitere Behörden befinden sich dem Bericht zufolge «in der Vorbereitungsphase». Diese kann sich allerdings hinziehen: Beim Bundespresseamt begann sie beispielsweise im November 2018.
Schlimmer noch: Bei 18 Behörden wurde das bereits eingeleitete System-Update wegen der Neuorganisation «zunächst pausiert», um zu prüfen, ob eine Fortführung unter den neuen Rahmenbedingungen sinnvoll sei. «Im Ergebnis wurden alle Projekte gestoppt» heißt es im Fortschrittsbericht nun lapidar. Dazu gehören das Bundesjustizministerium, das Verkehrsministerium, das Bildungsministerium und der Bundesrechnungshof.
Insgesamt wirft die Neuorganisation das Projekt damit offenbar weitgehend zurück auf Los. Der ursprüngliche Zeitplan, nachdem die Modernisierung 2025 abgeschlossen sein sollte, wirkt nach Lektüre des Papiers illusorisch. Mehr als ein Jahr nach dem Stopp der Haushälter steht nicht einmal ein neuer Fahrplan fest. So ist bisher nicht entschieden, in welcher Reihenfolge die Behörden an die neue «IT-Betriebsplattform Bund» angeschlossen werden sollen. Diese Entscheidung soll nun bis Dezember fallen. Allein für die Umplanung wäre mithin mehr als ein zusätzliches Jahr verstrichen.
Damit nicht genug. Auf mehr als drei Seiten listet der Bericht «Risiken und Probleme» auf. Dazu gehört etwa die Frage, ob die Netze des Bundes, über die der Datenverkehr laufen soll, «in der gewünschten Zeit und Qualität» zur Verfügung stehen werden.
Zudem wird die um sich greifende Unlust in Ministerien und Behörden aufgeführt, sich an dem Projekt «wegen der hohen Aufwände» überhaupt weiter zu beteiligen. Die Auswirkungen der Coronakrise sorgten in den IT-Abteilungen für zusätzliche Belastungen. «Hierdurch sowie durch die wiederholte öffentliche Kritik» könne die Bereitschaft der Häuser gefährdet sein, sich weiter mit dem notwendigen Nachdruck zu kümmern. Das Fazit: «Eine fehlende Akzeptanz in den Ressorts und Behörden könnte zu weiteren Verzögerungen bzw. dem Scheitern der Konsolidierung führen.»
Besonders fällt im Bericht des Finanzministeriums auch eine Leerstelle auf – bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit. Da man noch an den neuen Konzepten arbeite habe man darauf «zu diesem Zeitpunkt verzichtet», heißt es. Nach ersten Berechnungen sei allerdings davon auszugehen, dass «den relativ hohen Ausgaben für die Planung und den Aufbau» eher «überschaubare monetäre Einsparpotentiale» gegenüberstünden.
Das Milliardenprojekt wird durch seinen Notstopp und die Neuausrichtung für die Steuerzahler jedenfalls kaum günstiger. Die Finanzplanung werde «grundlegend zu aktualisieren» sein, heißt es knapp – dies könne allerdings «erst zum Haushalt 2022» erfolgen. Sicher ist hingegen schon jetzt, dass zumindest Beratungsfirmen an Deutschlands teuerstem öffentlichen Digitalisierungsvorhaben prächtig verdient haben – und wohl auch weiter verdienen werden: Allein das bis dahin federführende Innenministerium hatte bis Ende 2019 bereits 250 Millionen Euro für Berater ausgegeben. Bis zum ursprünglich geplanten Projektende 2025 hatten Innen- und Finanzministerium sogar Berater-Ausgaben in Höhe von fast 900 Millionen Euro eingeplant.
Scharfe Kritik aus der Opposition
Besser als bei der Harmonisierung der IT von Ministerien und Behörden läuft es dem Bericht zufolge bei den digitalen Anwendungen und Diensten für Beamte und Verwaltungsmitarbeiter. Diese werden in einem separaten Projektstrang vorangetrieben, für den das Innenministerium zuständig geblieben ist. Die Mitarbeiter der Bundesverwaltung sollen bald einheitliche digitale Werkzeuge nutzen, etwa die elektronische Akte. Sie wurde unter anderem im Justizministerium und im Finanzministerium getestet und sei «als tauglich für den Einsatz» befunden worden.
Auch mit einem «Social Intranet» für die Mitarbeiter und mit der geplanten «Bundescloud» kam man demnach voran. Teurer wird es allerdings auch hier: Der Bedarf für die kommenden Jahre liegt jeweils teils mehrere Dutzend Millionen Euro über den ursprünglichen Planungen. Schuld seien unter anderem «sich ändernde externe Rahmenbedingungen», heißt es.
Es scheint, als behielte der Bundesrechnungshof mit seinen Bedenken Recht: Er hatte nach verschiedenen äußerst kritischen Berichten zum bisherigen Verlauf des Projekts auch dessen Neuaufstellung kritisiert – oder das, was davon bis dahin bekannt war. Auch damit, monierten die Prüfer, habe das Projekt noch keinen «stabilen, gefestigten Zustand erreicht«.
Ursprünglich sollte der Haushaltsausschuss am Mittwoch über den Fortschrittsbericht diskutieren, so stand es auf der Tagesordnung. Doch die Koalition hat den Punkt kurzfristig wieder gestrichen.
Die beiden Grünen-Abgeordneten Sven-Christian Kindler und Tobias Lindner bezeichnen es als «schlechten Witz», dass in den vergangenen fünf Jahren nur eine Behörde fertig modernisiert worden sei. Zudem mache Finanzminister Scholz in seinem Fortschrittsbericht zwischen den Zeilen klar, dass «auch der Kostenrahmen von inzwischen 3,4 Milliarden Euro nicht zu halten sein wird».
Dass der Bericht keine neue Finanzplanung enthält, erklären sich die Abgeordneten mit taktischen Motiven: «Wieso die Bundesregierung die Projektkosten erst mit der Aufstellung des Haushalts 2022 anpassen will, ist nur mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr verständlich. Statt die Karten auf den Tisch zu legen und zuzugeben, dass weder Zeit- noch Kostenplan auch nur im Ansatz eingehalten werden können, drückt sich Finanzminister Scholz davor die Wahrheit zu sagen.»
«Mehr als dreist» sei zudem, dass das Finanzministerium die öffentliche Kritik an dem Projekt als Grund für sein mögliches Scheitern benenne, finden Kindler und Lindner. Finanzminister Scholz versuche «vorsorglich die Schuld für sein Scheitern auf die Opposition und die Medien» zu schieben. «Das ist wirklich krude und für einen Bundesminister schon sehr peinlich», so die Grünen-Abgeordneten. «Minister Scholz hat es in der Hand, das Projekt zum Erfolg zu führen – ganz ohne Medienschelte und Nebelkerzen.»
Source: spiegel.de
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