Vier zufällig ausgewählte Fälle aus dem vergangenen Jahr: Im September muss sich ein 18-Jähriger in Düsseldorf vor Gericht verantworten, weil er im Unterricht gesagt haben soll: «Ey, Alter, ich steche alle Lehrer ab». Im August klopft ein 15-Jähriger an die Tür des Lehrerzimmers, in der Hand hält er einen schussbereiten Sportbogen. Im Mai wollen drei Schüler ihren Chemielehrer mit einem Hammer erschlagen. Im Januar schlägt ein 13-Jähriger seinen Lehrer in Bad Köstritz mit der Faust nieder.
Immer wieder machen Polizei und Verbände auf Gewalt gegen Lehrer aufmerksam. So hat etwa das Landeskriminalamt Niedersachsen vor ein paar Monaten davon berichtet, dass immer mehr Lehrkräfte in dem Bundesland angegriffen werden. Auch in Bayern soll es laut dem bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband zunehmend Gewalt gegen Lehrer geben.
Nun hat der Verband Bildung und Erziehung (VBE) die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage über die Gewalt an Schulen veröffentlicht. Bereits vor zwei und vier Jahren gab der VBE solche Umfragen in Auftrag. Demnach nimmt die Gewalt gegen Lehrkräfte zu.
Die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage
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Knapp zwei Drittel aller Schulleiter und Schulleiterinnen (61 Prozent) gab an, dass an ihrer Schule in den vergangenen fünf Jahren Lehrkräfte beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt wurden. Vor zwei Jahren hatte das knapp die Hälfte der Schulleitungen (48 Prozent) angegeben.
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An mehr als einem Drittel der Schulen (34 Prozent) gab es Fälle von körperlicher Gewalt gegen Lehrkräfte. Im Jahr 2018 gab das rund ein Viertel (26 Prozent) aller Schulleiterinnen und Schulleiter an.
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An knapp einem Drittel der Schulen (32 Prozent) wurden Lehrkräfte über das Internet diffamiert, belästigt, bedroht oder genötigt. Zwei Jahre zuvor kam es an einem Fünftel (20 Prozent) der Schulen dazu.
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Vor allem an Haupt-, Real- und Gesamtschulen (52 Prozent) mobbten Schülerinnen und Schüler ihre Lehrer über das Internet.
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Vor allem an Grundschulen (40 Prozent), aber auch an Haupt-, Real- und Gesamtschulen (21 Prozent) kommt es häufiger zu körperlicher Gewalt als an Gymnasien (sieben Prozent).
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Nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) gab an, dass es ihnen gelungen sei, Lehrkräfte, die Gewalt erfahren haben oder gemobbt worden sind, ausreichend zu unterstützen. Im Jahr 2018 hatten das noch 87 Prozent angegeben. Die Ursachen dafür liegen laut der Umfrage in Eltern, die nicht kooperationswillig, und Schülern, die nicht einsichtig waren.
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Ein Viertel der Schulleitungen findet es zu bürokratisch, Fälle von Gewalt zu melden.
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Spannend hierbei: 18 Prozent der Schulleiterinnen und Schulleiter sind der Meinung, dass Fälle von Gewalt an ihrer Schule dazu führen könnten, dass die Schule ihren guten Ruf verlieren könnte.
Die Umfrage lässt allerdings einiges offen: Aus den Ergebnissen geht nicht hervor, wie viele Gewaltfälle es pro Jahr an einer Schule gab. Es wurde lediglich danach gefragt, ob Lehrkräfte in den vergangenen fünf Jahren körperlich angegriffen worden sind. Das könnte einmal, aber auch 20-mal gewesen sein. Dennoch lässt sich laut VBE im Vergleich zur Umfrage von 2018 abzeichnen, dass die Gewalt gegen Lehrkräfte angestiegen ist.
Zudem wird die Definition von «körperlicher Gewalt» in der Umfrage recht weit ausgelegt und umfasst zum Beispiel schlagen, schütteln, stoßen, treten, boxen, mit Gegenständen werfen, an den Haaren ziehen oder mit den Fäusten oder Gegenständen prügeln.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sagte dem SPIEGEL, natürlich gebe es Gewalt an Schulen. Allerdings sieht er die VBE-Umfrage auch kritisch: «Es ist nicht so aussagekräftig, wenn es innerhalb von fünf Jahren einen Vorfall gegeben hat.» Er habe sich ein feineres Messinstrument erwartet.
Allerdings kann er sich gut vorstellen, dass Lehrer im Internet mehr gemobbt würden. «Die WhatsApp-Gruppen der Schüler sind das Problem, die kontrolliert keiner, da zieht jeder vom Leder.»
Hier erwartet Meidinger ein klares Signal von der Politik: «Es muss klar sein, dass Lehrer Rückendeckung bekommen. Wir brauchen Ombudsstelle und Vertrauensleute, auch in den Ministerien.» An diese Stellen müssten sich die Lehrkräfte wenden können, ohne dass sie bei der Dienststelle gleich «die Hosen runterlassen müssen.» Hier sollten sie sich beraten lassen können.
«Es gibt keine verlässlichen Messinstrumente»
«Wir wundern uns manchmal, was sich Lehrer alles gefallen lassen. Vor allem Frauen halten viel abwertendes Gerede aus.» Die Schulen müssten daher ein Klima schaffen, in dem auch verbale Gewalt nicht toleriert wird. Manchmal helfe deeskalierendes Verhalten der Lehrkräfte oft aber auch nicht, Gewalt dürfe gar nicht erst aufkommen. «Ein aggressiver Schüler muss aus dem Klassenzimmer geschickt werden können — in einen Raum, wo er emotional runterkommen kann.»
Gewalt werde nicht systematisch erfasst, es gebe zwar Schulen, die auftragsgemäß Statistiken führen, wie oft der Notarzt oder die Polizei kommen müsse, aber das sei in jedem Bundesland anders. «Es gibt keine verlässlichen Messinstrumente, bei verbaler Gewalt schon gar nicht.»
VBE-Studie Gewalt gegen Lehrkräfte
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat die Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) realisiert. Der VBE ist die größte Fachgewerkschaft innerhalb des deutschen Beamtenbundes (dbb) mit rund 164.000 Mitgliedern. Er organisiert vor allem Erzieher und Lehrer an Grund-, Haupt-, Real-, Förder- und Gesamtschulen, aber auch an sonstigen Schultypen in Deutschland.
Zwischen dem 8. Januar und dem 17. Februar wurden insgesamt 1302 Schulleiter und Schulleiterinnen in Deutschland in computergestützten Telefoninterviews befragt. Auf Wunsch konnten die ausgewählten Schulleiterinnen und Schulleiter die Fragen auch online über einen individuellen Befragungslink beantworten.
Laut Forsa ist die Studie repräsentativ.
«Ich bin überrascht, dass die Gewalt über alle Arten und Schulformen hinweg seit 2018 zugenommen hat», sagte Udo Beckmann, der VBE-Bundesvorsitzende, dem SPIEGEL.
SPIEGEL: Laut VBE werden die Schüler gegenüber ihren Lehrern zunehmend gewalttätig, woran liegt das?
Udo Beckmann: Bei den Grundschülern liegt es sicher daran, dass sie noch nicht gelernt haben, sich in Konfliktsituationen anders zu äußern.
SPIEGEL: Hat sich das Verhalten von Grundschülern über die Jahre wirklich so stark verändert?
Beckmann: Das, was wir in der Schule erleben, ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Sprache verroht immer mehr, Kinder und Jugendliche kriegen das mit. Zudem nutzen sie zunehmend Medien, und Eltern achten zu wenig darauf, ob die Spiele, die sie spielen, gewaltverherrlichend sind. Außerdem haben Eltern eine immer höhere Erwartungshaltung an die Schulen.
SPIEGEL: Was hat das mit der Gewalt zu tun?
Beckmann: Die Politik formuliert Ziele, etwa, dass der Unterricht auch digital ablaufen soll. Das weckt bei den Eltern Erwartungen an die Schule. Die können dort aber gar nicht so schnell eingelöst werden, weil die Bedingungen fehlen. Zudem wollen manche Eltern ihr Kind am liebsten in der ersten Klasse abgeben und dann mit dem Abitur in der Tasche wieder abholen. Sie wollen um jeden Preis einen guten Schulabschluss für ihre Kinder, sonst könnten sie abgehängt werden und nicht den Beruf ergreifen, den sie haben wollen. Diesen Druck geben die Eltern an ihre Kinder und auch an die Lehrkräfte weiter. Zugleich passen die Lernumgebungen für die Schüler nicht.
SPIEGEL: Inwiefern?
Beckmann: Die Klassen sind zu groß, Lehrer können nicht individuell auf die Schüler eingehen. In der Coronakrise haben uns die Lehrer zurückgemeldet, wie viel es Schülern gebracht hat, im Schichtbetrieb in kleinen Lerngruppen arbeiten zu können. Die fühlten sich viel besser wahrgenommen als im großen Klassenverband. Deswegen müssen wir auch in Zukunft das konfliktfreie Lernen ermöglichen.
SPIEGEL: Wie soll das in Zeiten des Lehrermangels gehen?
Beckmann: Schulpsychologen und Sozialarbeiter müssen die Lehrer verstärkt bei ihrer Arbeit unterstützen. Der Unterricht muss endlich mit digitalen Medien gestaltet werden, die es erlauben, Schüler individuell zu fördern. Doch dazu braucht es wieder Lehrer, die das umsetzen.
SPIEGEL: Knapp ein Fünftel aller Schulleiterinnen und Schulleiter fürchtet laut der Umfrage, der Ruf der Schule könnte leiden, wenn sie Gewalttaten melden.
Beckmann: Jede Schule, die solche Fälle nicht meldet, ist eine Schule zu viel. Es muss erklärtes Ziel sein, dass jede Schule ohne Angst vor Reputationsverlust mit solchen Situationen umgehen kann. Die Schulbehörden und die verantwortlichen Politiker müssen die Gewalt gegenüber den Lehrkräften ernst nehmen, sie müssen sich vor ihre Beschäftigten stellen, ihnen psychische und rechtliche Hilfe anbieten, wenn sie angegriffen werden. Noch vor ein paar Jahren haben sich viele Lehrer mit dem Problem alleingelassen gefühlt. Da wurde ihnen signalisiert: «Haben Sie keine Rechtsschutzversicherung, mit der sie das klären können?»
SPIEGEL: Laut der Umfrage hat vor allem das Cybermobbing gegen Lehrer zugenommen. Wie lässt sich das an den Schulen in den Griff bekommen?
Beckmann: Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, was es bedeutet, wenn jemand im Netz diffamiert wird. Schüler müssen erfahren, dass es für Lehrkräfte eine riesige psychische Belastung ist, vor allem, weil sie oft erst dann davon erfahren, was über sie im Netz verbreitet wird, wenn es schon alle anderen wissen.
SPIEGEL: Welcher Fall ist Ihnen da aus den letzten Jahren besonders im Gedächtnis geblieben?
Beckmann: Zwei Schüler haben im Netz Gerüchte über einen Lehrer verbreitet, er habe jemanden sexuell missbraucht. Der Lehrer wurde angezeigt. Doch dann hat einer der beiden gesagt, alles wäre gelogen gewesen. Da war es aber schon zu spät. Der Schaden war angerichtet, der Lehrer konnte nicht mehr arbeiten, das bleibt ja an ihm kleben. Viele haben nicht einmal mitbekommen, dass er rehabilitiert worden ist.
Source: spiegel.de
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