Erst als am Mittwochmorgen über Lesbos die Sonne aufgeht, wird sichtbar, was von Europas größtem Flüchtlingslager übrig geblieben ist. Auf Bildern und Videos aus dem Camp Moria sind verbrannte Zelte zu erkennen. Verkohlte Baumstümpfe ragen aus dem Boden, im Hintergrund steigt weißer Rauch auf.
Ein Brand hat in der Nacht zu Mittwoch große Teile des Flüchtlingslagers Moria zerstört. Stundenlang stand das Camp fast vollständig in Flammen. Flüchtlinge flohen aus ihren Zelten und Verschlägen. Viele versteckten sich am Hang des Olivenhains, der das Lager umschließt oder flohen auf die Straßen, die vom Camp wegführen. Mehr als 12.600 Menschen sind nun obdachlos.
Noch gibt es keine offiziellen Angaben zu Toten oder Verletzten, bis jetzt haben auch Polizei und Feuerwehr keine entsprechenden Berichte von den Flüchtlingen erhalten.
Nach SPIEGEL-Informationen verbrannten rund 70 Prozent der Zelte, Verschläge und Container. Darunter sind Teile des offiziellen, mit einem Zaun gesicherten Lagers, aber auch viele Zonen des wilden Camps links und rechts vom Zaun. Eine Gesundheitsstation, finanziert von der niederländischen Regierung und gerade erst eingeweiht, brannte ebenfalls ab.
«Wir wissen nicht wohin»
«Alles liegt in Asche», berichtet ein 16-jähriger afghanischer Junge am Telefon. «Wir wissen nicht wohin», sagt ein anderer Flüchtling. «Niemand kümmert sich um uns.»
Die genaue Ursache für die Brände ist noch unklar. Spekuliert wird unter anderem über Brandstiftung durch die Geflüchteten selbst. Auch die Behörden ermitteln in diese Richtung. Allerdings brechen im Camp fast wöchentlich kleinere Feuer aus, oft werden sie durch elektrische Geräte in den Zelten hervorgerufen.
DER SPIEGEL
Überraschend kommt die Brandkatastrophe nicht. Die Stimmung auf Lesbos und auch innerhalb des Camps war in den vergangenen Wochen eskaliert. Mit Beginn der Corona-Pandemie hatten die Behörden das Lager abgeriegelt. So sollte verhindert werden, dass sich das Virus auch im Camp verbreitet. Doch am Dienstag wurde bekannt, dass inzwischen 35 Geflüchtete positiv getestet worden waren. 82 Migranten wurden nach Behördenangaben außerhalb des offiziellen Teil des Lagers am Olivenhain untergebracht und isoliert.
Seit Tagen fürchten die Geflüchteten im Camp, sich mit dem Virus zu identifizieren. Nichtregierungsorganisationen berichten von einer Welle an Suizidversuchen und Gewalt, bedingt auch durch den harten Lockdown. Im Camp ist es unmöglich, Abstand zu halten. Das Lager ist völlig überfüllt, die Unterbringung wurde bereits oft als unmenschlich kritisiert. In einigen Teilen gibt es nicht mal fließend Wasser oder Elektrizität. Experten rechneten seit Monaten damit, dass das Virus sich schnell verbreitet, wenn es das Camp erst einmal erreicht hat.
«Wir haben davor gewarnt»
Als die Nachricht von den positiven Testergebnissen die Runde machte, brachen im Camp Unruhen aus. Manche Migranten hätten das Lager verlassen wollen, um sich nicht mit dem Virus anzustecken, meldete die halbstaatliche griechische Nachrichtenagentur ANA-MPA. Geflüchtete hätten Feuerwehrleute mit Steinen beworfen und versucht, sie an den Löscharbeiten zu hindern, berichtete der griechische Einsatzleiter im Fernsehen. Die Polizei setzte Tränengas ein.
«Wir haben davor gewarnt», twittert der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt, der oft selbst auf Lesbos ist. Europa und auch Deutschland hätten jahrelang politisch versagt. «Das ist eine Katastrophe mit Ankündigung», sagt Oliver Müller, der Leiter von Caritas International. Die Menschen seien trotz aller Kritik und in Kenntnis der verheerenden Zustände in Moria ihrem Schicksal überlassen worden.
Nach dem Brand müssen die griechischen Behörden nun mehr als 12.000 Geflüchtete unterbringen. Noch ist völlig unklar, wo sie schlafen sollen. Lesbos hat nur 86.000 Einwohner. Auf der Insel wurde der Ausnahmezustand verhängt, zusätzliche Polizeieinheiten sind auf dem Weg. Am Mittwochmittag blockierte die Polizei eine Karawane von Geflüchteten, die versucht hatten, die Hauptstadt Mytilini zu erreichen.
Premier Mitsotakis beriet sich am Morgen mit seinem Kabinett, der Armee und den Geheimdiensten. Ein für das Camp zuständiger griechischer Beamter sagte dem SPIEGEL, dass das Camp theoretisch schnell wieder aufgebaut werden könne, falls die Behörden den Boden säubern und große Zelte für Dutzende Personen aufstellen.
Foto: ALKIS KONSTANTINIDIS / REUTERS
In den nächsten Tagen könnten zudem Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Anwohnern drohen. In den vergangenen Wochen berichteten Geflüchtete mehrmals über Angriffe von Rechtsradikalen auf das Camp. Auch Nichtregierungsorganisationen werden immer wieder zum Ziel der Angriffe. In der Nacht, während das Feuer noch loderte, wurden fünf Freiwillige verschiedener Hilfsorganisationen attackiert.
«Wir waren auf dem Weg zum Camp, um zu helfen, als uns rund zwanzig Männer mit Schlagstöcken angegriffen haben», sagt Romy Bornscheuer. Sie arbeitet bei der Organisation «Europeans for Humanity». Die Männer hätten das Auto umstellt und Steine durch die Scheiben geworfen. Die Gruppe sei schließlich zu Fuß geflüchtet. «Eine Dreiviertelstunde haben wir uns versteckt, direkt neben dem Feuer.»
Nach dem Brand fordern nun zahlreiche europäische Politiker, die Geflüchteten von der Insel zu bringen. Außenminister Heiko Maas (SPD) schrieb auf Twitter von einer «humanitären Katastrophe»: «Mit der EU-Kommission und anderen hilfsbereiten EU-Mitgliedstaaten müssen wir schnellstens klären, wie wir Griechenland unterstützen können. Dazu gehört auch die Verteilung von Geflüchteten unter Aufnahmewilligen in der EU.»
Die CDU hingegen sprach sich gegen eine nationale Hilfsaktion für die Menschen in Moria aus. «Die neueste Entwicklung auf Lesbos macht deutlich, wie dringend eine europäische Antwort auf die Flüchtlingsentwicklung ist», sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg. Die zuständige EU-Innenkommissarin Ylva Johansson versprach die Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen aus dem Lager.
In dem kleinen Dorf Moria, das direkt neben dem Camp liegt, haben viele die Hoffnung auf Hilfe bereits aufgegeben. Einige Bewohner errichteten in der Nacht Barrikaden. «Wir sorgen uns um unsere Häuser — haben auch Angst vor dem Virus», sagt eine Frau, die den Geflüchteten aus dem Lager lange ausgeholfen hat. Verantwortlich macht sie die griechische Regierung. «Sie werden nun ein paar Tage über uns reden. Und dann werden wir wieder vergessen.»
Source: spiegel.de
Комментариев нет:
Отправить комментарий