Yaser Taheri hat alles getan, um in Moria nicht verrückt zu werden. Er übersetzte für andere Geflüchtete. Er nahm an einer Filmklasse teil, die eine NGO anbot. Acht Monate lang lebte Taheri, ein Jugendlicher aus Afghanistan, so gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Brüdern in dem Camp auf der griechischen Insel Lesbos, ehe seine Unterkunft bei dem Großbrand vergangenen Dienstag zerstört wurde.
Nun haust die Familie in einem Olivenhain nahe dem Camp. Sie konnte ein paar Kleidungsstücke vor dem Feuer retten, Ausweise, ein Telefon. Alles andere ist weg. Taheri weiß nicht, wie lange er die Situation noch erträgt: «Die EU spricht immer von Menschenrechten», sagt er. «Aber sie behandelt uns wie Müll.»
«Die EU spricht immer von Menschenrechten. Aber sie behandelt uns wie Müll.»
Fast eine Woche ist vergangen, seit Feuer das Lager in Moria verwüstet haben. Und noch immer sind Tausende ehemalige Campbewohner ohne Obdach. Sie schlafen wie die Familie Taheri im Freien unter Olivenhainen oder auf der Straße vor einem geschlossenen Lidl.
Die Angst vor dem neuen Camp
Die griechischen Behörden haben übers Wochenende unter anderem mit Unterstützung des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) auf einem ehemaligen Schießübungsplatz ein Zeltlager hochgezogen, wo sie einige der Geflüchteten nun vorübergehend unterbringen wollen. Das Camp ist bislang nur für etwa 4000 Menschen ausgerichtet, wo die anderen unterkommen sollen, ist unklar. Einige, so heißt es von griechischer Seite, sollen aufs Festland gebracht werden, andere in Unterkünfte auf Lesbos.
Bislang haben laut UNCHR lediglich 500 bis 600 Flüchtlinge Quartier in dem Zeltlager bezogen. Die griechische Regierung spricht von 900. Die allermeisten scheuen den Transfer. Sie haben Angst, erneut in einem Camp eingesperrt zu sein, wie schon zuvor in Moria, für immer auf Lesbos festzusitzen. «Im Camp gibt es nichts Gutes», sagt Yaser Taheri. «Sie geben dir zwar Wasser und Essen, aber das ist alles. Es ist wie in einem Gefängnis.»
Die griechische Regierung will die Geflüchteten drängen, in das Zeltlager zu ziehen, indem sie Asylanträge nur noch dort bearbeitet. Schon jetzt ist die Stimmung auf Lesbos extrem angespannt. Am Wochenende protestierten Geflüchtete gegen die menschenunwürdigen Bedingungen auf der Insel. Sie skandierten «Europa hilf!», die Polizei schoss mit Tränengas auf die Migrantinnen und Migranten, zum Teil auch auf Kinder.
Die Nichtregierungsorganisation Mission Lifeline, die auf Lesbos Nothilfe leistet, berichtet auf Twitter von «schwer verletzten Kindern, hilflosen Eltern» oder berichtet «Die griechische Polizei hat auf Kinder mit faustgroßen Metallkörpern geschossen, in denen sich Tränengas befand».
Miserable Lebensmittelversorgung, schlechte Infrastruktur
Die Versorgung der Geflüchteten ist nach wie vor miserabel. Etliche Menschen haben nur eingeschränkt Zugang zu Essen und Trinken. Familien irren über die Insel auf der Suche nach Lebensmitteln. NGOs werden von griechischen Sicherheitskräften bei ihrer Arbeit behindert.
Wenn wir nicht aufpassen, erleben wir pogromartige Zustände auf Lesbos.
Shahida Husaini, 25 Jahre alt, aus Pakistan, ist im sechsten Monat schwanger. Sie kampiert gemeinsam mit ihrem Mann und drei Kindern seit dem Brand auf der Straße vor dem Lidl. Es fehlt ihr an allem: Essen, Medikamente, Kleidung. Sie hat noch nicht einmal mehr Schuhe. «Wir brauchen Hilfe», fleht sie.
Beobachter fürchten, dass Auseinandersetzungen zwischen Geflüchteten und Einheimischen in den kommenden Tagen eskalieren könnten. Bereits in der Vergangenheit war es immer wieder zu Angriffen auf Migrantinnen und Migranten durch Rassisten gekommen. Im Frühjahr hatten Rechtsextremisten vorübergehend die Kontrolle auf Lesbos übernommen. «Wenn wir nicht aufpassen, erleben wir pogromartige Zustände auf Lesbos», warnt der Berliner Migrationsexperte Gerald Knaus.
Wissenschaftler appellieren an Merkel
In Europa wächst angesichts der Katastrophe auf Lesbos der Druck auf die Regierungen, Geflüchtete von der griechischen Insel zu holen. «Wir appellieren an die deutsche Bundesregierung, in dieser Situation rasch und unbürokratisch möglichst viele Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen. Viele Städte und Kommunen hierzulande sind bereit, sich daran zu beteiligen», heißt es in einem offenen Brief namhafter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Bislang konnten sich unter anderem Deutschland und Frankreich jedoch lediglich dazu durchringen, einige wenige Hundert unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Andere Staaten wie Österreich verweigern sich komplett.
Auch die Regierung in Athen sperrt sich gegen eine Umsiedelung von Geflüchteten in großer Zahl. Sie fürchtet, dass dann weitere Lager in Brand gesteckt werden könnten — oder dass sich noch mehr Flüchtlinge auf den Weg nach Griechenland machen könnten.
Die Situation für Migrantinnen und Migranten auf dem griechischen Festland ist schon jetzt genauso schlecht wie auf den Inseln. Schutzsuchende sind gezwungen, auf der Straße zu leben, ohne Arbeit oder medizinische Versorgung.
Premier Kyriakos Mitsotakis warf einigen Flüchtlingen vor, Moria absichtlich in Brand gesetzt zu haben, um seine Regierung zu erpressen. Er schickte unter anderem die Antiterrorpolizisten und Geheimdienstmitarbeiter nach Lesbos, um die Katastrophe aufzuklären. In Athen betrachtet man die Geflüchteten vor allem als Bedrohung für die nationale Sicherheit. Und genau so handelt man auch.
Source: spiegel.de
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