Es ist kurz nach 12 Uhr an diesem Mittwoch, Ursula von der Leyen steht vor den Kameras im Erdgeschoss des Berlaymont, des Hauptquartiers der EU-Kommission in Brüssel. «Das Paket der Kommission zu Migration und Asyl bietet einen neuen Start», sagt die Kommissionspräsidentin.
Ein Neustart, darum soll es gehen in einer Debatte, die die Union in den vergangenen fünf Jahren mehr als einmal an den Abgrund geführt hat. Nach monatelanger Verzögerung legt die EU-Kommission nun ihre Vorschläge für eine neue Asyl- und Migrationspolitik vor. Und die erste Überraschung ist, dass die Kommissionschefin selbst den ersten Aufschlag macht.
Von der Leyen ist seit bald einem Jahr im Amt. Nun lässt sie zum ersten Mal erkennen, dass sie bereit ist, selbst in der Flüchtlingsfrage voranzugehen. Von der Leyen, die PR-Expertin, kennt die Macht der Bilder. So wie das Foto des ertrunkenen syrischen Jungen Alan Kurdi vor fünf Jahren viele Europäer aufrüttelte, sind es nun die Bilder des brennenden Flüchtlingslagers in Moria, die die EU zum Handeln zwingen.
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Doch von der Leyens Vorschläge sind keine Revolution. Wirklich neu ist der Großteil des Migrationspakts nicht.
Er soll auf mehreren Säulen stehen:
Effizientere und schnellere Verfahren: An den EU-Außengrenzen sollen Neuankömmlinge künftig gründlicher und zugleich schneller registriert werden. Irreguläre Migranten sollen nicht nur wie bisher ihre Fingerabdrücke hinterlassen, sondern einen vollständigen Gesundheits- und Sicherheitscheck durchlaufen. Nach höchstens fünf Tagen sollen sie unterschiedlichen Verfahren zugeordnet werden. Ankömmlinge aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote sollen sofort in einem beschleunigten Verfahren mit schneller Rückführung landen.
Faire Verteilung von Verantwortung und Solidarität: «Die Mitgliedsländer werden verpflichtet sein, verantwortungsvoll und in Solidarität miteinander zu handeln», erklärt die Kommission. Insbesondere im Krisenfall müsse «ausnahmslos jedes Mitgliedsland» seinen Beitrag leisten, um unter Druck stehende Mitgliedsländer zu unterstützen. Dazu soll es ein System «flexibler Beiträge» geben. Wer keine Asylsuchenden aus anderen EU-Staaten aufnehmen will, soll anderen Ländern materielle Hilfe leisten oder «Rückführungs-Patenschaften» übernehmen — sich also verpflichten, abgelehnte Asylbewerber innerhalb einer bestimmten Zeit in ihr Heimatland zurückzubringen.
Stärkung der Außengrenzen: Der Küsten- und Grenzschutz der EU soll gestärkt werden, zugleich soll es ein EU-System für Rückführungen abgelehnter Asylbewerber geben. Dazu ist das Amt eines «Rückführungskoordinators» geplant, der die Maßnahmen der Mitgliedsländer koordiniert.
Verbesserte Zusammenarbeit mit Drittstaaten: «Maßgeschneiderte Partnerschaften» mit Nicht-EU-Ländern sollen den Kampf gegen Schleuser und die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber erleichtern. Einen Anreiz sollen neue Regeln für die legale Migration bieten. Die Kommission will dazu beispielsweise «Talent-Partnerschaften» einführen, um gezielt von europäischen Unternehmen benötigte Arbeitskräfte in die EU zu holen.
Verteilungsquote ist Geschichte
Das meiste von alldem wurde freilich schon oft versprochen oder gefordert, von der Beschleunigung der teils extrem langen Asylverfahren über «flexible Solidarität» unter den Mitgliedsländern bis hin zur verbesserten Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern von Migranten.
Bezeichnend ist dagegen, was nicht mehr vorkommt: eine verpflichtende Quote für die Verteilung von Asylsuchenden. Deutschland und andere Länder, in denen viele Menschen angekommen waren, haben sie jahrelang gefordert. Das Thema sorgte seit jeher für Auseinandersetzungen in der EU. Im September 2015 hatten die Innenminister die verpflichtende Quote beschlossen — gegen die Stimmen von Ungarn, Bulgarien, Tschechien und der Slowakei. Diese Länder weigern sich bis heute, Flüchtlinge oder Migranten aufzunehmen.
Indem sie die Quote weglässt, geht die Kommission nun auf die Osteuropäer zu. Anders als bei ihren Vorschlägen aus dem Jahr 2016 sind dieses Mal auch keine Strafzahlungen für Verweigerer vorgesehen. Stattdessen bietet die Kommission 10.000 Euro pro erwachsenen Migranten aus dem EU-Budget für aufnahmewillige Länder.
Ob die bisherigen Verweigerer ihre Haltung nun ändern werden, ist allerdings fraglich. Denn nur in «Zeiten erhöhten Drucks» soll von Mitgliedsländern «striktere Mitwirkung» verlangt werden, heißt es. Die Länder könnten sich dann aussuchen, ob sie Asylsuchende aufnehmen oder aber bei der Rückführung helfen, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Nichtstun sei dagegen keine Option.
«Es drohen viele neue Morias zu entstehen»
Das zentrale Problem: Die Regierungen einiger Länder profitieren seit Langem innenpolitisch von der ungelösten Migrationsfrage — allen voran Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, der sich gern als Retter der Christenheit vor muslimischer Masseneinwanderung inszeniert. Warum er freiwillig auf diesen Dauerbrenner verzichten sollte, ist unklar.
Erik Marquardt, Migrationsexperte der Grünen im EU-Parlament, sieht im Kommissionspaket weitere Schwachstellen — etwa die Sortierung der Neuankömmlinge aufgrund ihres Herkunftslands. «Das wird nicht dem Anspruch der Kommission gerecht, keine neuen Lager wie das in Moria entstehen zu lassen», sagt Marquardt. «Im Gegenteil, es drohen viele neue Morias zu entstehen.»
Wenn diejenigen, denen schlechte Chancen auf Asyl eingeräumt werden, etwa auf griechischen Inseln bleiben sollen, «dann ist das praktisch das, was wir jetzt schon haben», so der Grünenpolitiker. Die massive Beschleunigung der Verfahren sei «ein frommer Wunsch». «Das haben wir auch schon 2016 über den EU-Türkei-Deal gehört.» Es habe sich aber gezeigt, dass es nicht möglich sei, Menschen in Staaten zurückzubringen, die dies ablehnen, und dass es nicht nachhaltig ist, wenn es in den Herkunftsländern keine Perspektive gibt. «Diese Leute stehen zwei Wochen später wieder an unseren Grenzen.»
«Diese Vorschläge widersprechen schon der Idee und dem Sinn von Asylrecht an sich», sagt auch Cornelia Ernst, asylpolitische Sprecherin der Linksfraktion im EU-Parlament. «Es geht wieder nur um Abwehr, Abschreckung und vor allem um Abschiebungen.»
Die Christdemokraten im EU-Parlament loben dagegen den Migrationspakt. Die Vorschläge seien «ein guter Ausgangspunkt» für ein nachhaltiges Asylsystem, erklärte Roberta Metsola, innenpolitische Sprecherin der EVP-Fraktion. Die Mitgliedsländer sollten es nun so schnell wie möglich absegnen.
«Die anderen bekommen einen Rückführungsbescheid»
Ob das geschehen wird, lässt sich noch nicht sagen. Ein erstes belastbares Stimmungsbild wird der Rat der EU-Innenminister am 8. und 9. Oktober liefern. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der die Verhandlungen nun für die deutsche Ratspräsidentschaft führen muss, zeigte sich am Wochenende bereits skeptisch. Viele EU-Partner seien über den weitgehenden deutschen Alleingang bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria so sauer, dass sie gar nicht daran dächten, sich jetzt mit den neuen Gesetzesvorschlägen eingehend auseinanderzusetzen.
Wie schwer die Debatte wird, zeigte am Mittwoch auch ein recht unhöflicher Einwurf aus Wien. Von der Leyen hatte ihre Ideen zur Flüchtlingspolitik ihren Kommissaren noch nicht einmal vorgelegt, da kam schon die erste Absage. Die Flüchtlingsverteilung in der EU sei «gescheitert», teilte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz mit. «Das lehnen so viele Staaten ab. Das wird auch nicht funktionieren», sagte der Politiker, der seine steile Karriere auch seiner harten Haltung in der Flüchtlingspolitik zu verdanken hat. Dabei schlägt von der Leyen eine verpflichtende Aufnahme von Flüchtlingen gerade nicht vor.
In der Kommission scheint man indes daraufzusetzen, dass das Problem immer kleiner wird. «Wir sind nicht mehr im Jahr 2015», sagte Innenkommissarin Johansson. Damals, auf dem Höhepunkt der Krise, seien 1,8 Millionen Menschen irregulär in die EU gekommen, «und fast alle waren Flüchtlinge». 2019 habe es nur noch 140.000 irreguläre Zuwanderer gegeben, von denen gerade einmal ein Drittel Anspruch auf Asyl hätten. «Die anderen», so Johansson, «bekommen einen Rückführungsbescheid.»
Source: spiegel.de
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