Eines Tages würde er von Robotern gewaschen, zur Schule fliegen und sich an jeden Ort der Welt beamen lassen — David Graeber, Jahrgang 1961, war ein Kind der Raumfahrtepoche und insgeheim ein Optimist: Wenn wir nur wild genug denken und entschlossen genug handeln, dann wird sich aus dem ganzen verkorksten Kapitalismus noch wirklicher Fortschritt ergeben.
Graeber, der nun im Alter von 59 Jahren verstorben ist, war nicht nur Ethnologe und Akademiker, er war auch ein Aktivist, der insbesondere die Occupy-Bewegung belebte und inspirierte. Von ihm soll der Slogan der Bewegung stammen: «Wir sind die 99 Prozent».
Dabei waren seine Gedanken weniger linksradikal als vielmehr klassisch anarchistisch: Warum, fragte er, verlieren wir immer mehr Zeit mit dem Eingeben von Passwörtern, der Aktualisierung von Software und dem Ausfüllen von Formularen? Warum verirren sich Wissenschaft und Wirtschaft in purer Selbstbeschäftigung?
Seine Bücher machten, bei aller Kritik an den bestehenden Verhältnissen, gute Laune, weil er in ihnen einen Horizont des Denkens öffnete. Warum vergeuden wir unsere Zeit mit sinnlosen Tätigkeiten, wenn wir doch das Leben verbessern können? Das war die seiner Arbeit zugrunde liegende Frage.
Natürlich war er für Umverteilung und eine ganze Reihe von Dingen aus dem klassischen linken Katalog, aber sein Motiv war liberal im klassischen Sinne. Die Ressourcen der Erde und die Mühe der Menschen sollten zu festlichen, spektakulären Zielen dienen und nicht dazu, in Seminaren über Seminarführung herumzusitzen. Er prägte den Ausdruck der «Bullshit-Jobs», deren geringe Relevanz durch um so inbrünstigere Bekenntnisse zur Firma kompensiert werden sollen — gerade im digitalen Kapitalismus ein weit verbreitetes Phänomen.
Die Freiheit beschwor er nicht nur, er zeigte auch, wie man sie im Denken anwendet, vor allem in seinem großen Buch über Schulden. Gerade in Deutschland ist es noch ein schambehaftetes Thema, privat wie politisch. Graeber deutete aber das Thema um: Keineswegs seien Schulden ein Ausweis schlechten Wirtschaftens oder schlechten Lebens überhaupt, vielmehr seien sie Motor und Medium des wirtschaftlichen Lebens, der Buchführung, damit der Schrift und unserer Kultur überhaupt: Schulden, so Graeber, seien ökonomische Lebensgeister, und wer der «schwarzen Null» huldige, befördere Langeweile und technisch-kulturellen Stillstand.
Im Unterschied zu anderen Theoretikern des linken Lagers, etwa dem Ökonom Thomas Piketty, war Graeber nie berechenbar. Piketty kann man nachts wecken — seine Antwort auf jede Frage ist die Besteuerung der Reichen; und das kann ja auch eine gute Sache sein. Aber Graeber kam mit anderen Beobachtungen und Gedanken, fand den Weg von einer Beschreibung des stupiden digitalen Büroalltags zu einer Anklage des Laufs der Geschichte überhaupt.
An einer akademischen Karriere klassischen Zuschnitts war er wenig interessiert, in Yale wurde sein Vertrag beendet und er wechselte nach London. Er reiste viel, setzte sich zudem für die Sache der Kurden ein.
Am 2. September ist David Graeber in Venedig gestorben.
Source: spiegel.de
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