Es ist kurz nach 18 Uhr, ein Montagabend Anfang September in Bogotá. Natalia Gutierrez, 36, schneidet in ihrer Edelstahlküche Avocado. Ihr Ehemann Carlos, 38, klopft mit einem Mörser das Schweinefleisch flach. Die beiden studierten Wirtschaftsingenieure bereiten Chuleta Valluna vor, eine Art kolumbianisches Schnitzel mit Limetten.
«Das essen wir mehrmals im Monat, Carlos liebt es!», sagt Natalia und lacht. Dazu gibt es Avocado, Spaghetti und Reis. Im Flur der Fünfzimmerwohnung hängen Hochzeitsfotos, Natalia und Carlos vor einem Sonnenuntergang oder mit ihren Hunden, einem Basset Hound und einem beigefarbenen Mischling.
Von ihrer Wohnung im elften Stock blickt man auf die Hochhäuser von Cedritos, einem wohlhabenden Viertel der kolumbianischen Hauptstadt, und auf die grünen Gipfel der Anden. Der Feierabendverkehr auf der Autopista Norte ebbt ab. Die Hauptverkehrsstraße verläuft mitten durch die 7,4-Millionen-Stadt.
Während die Eltern das Essen zubereiten, hüpft die anderthalbjährige Antonia von der Couch in die Küche und zurück, vorbei an ihrem Bällebad im Wohnzimmer. Ihre Großmutter Martha läuft hinter ihr her. Die 64-Jährige wohnt seit Ausbruch der Pandemie bei der Familie.
Lesen Sie in unserer Serie «Zum Abendessen bei …», was Frauen weltweit bewegt. Bei diesem Essen in Bogotá erzählt Natalia Gutierrez von ihrem Alltag, was sie gerade am meisten beschäftigt, besorgt und freut — politisch, finanziell und persönlich.
Natalia Gutierrez über die aktuelle Situation: «Ich habe ein mulmiges Gefühl»
«Heute sind alle gut drauf, weil es Chuleta Valluna gibt! Valluna bedeutet ‘aus dem Tal’; das Gericht stammt aus meiner Heimatstadt Cali im Cauca-Tal. Natürlich beschäftigt uns das Coronavirus. Meine Schwiegermutter Martha hat ihr Café, das sie in der Nähe von Bogotá führt, wegen der Pandemie erst mal schließen müssen — es kommen ja keine Touristen ins Land.
In Kolumbien sind bereits mehr als 24.000 Menschen mit einer Covid-19-Infektion gestorben, zwischenzeitlich hatte das Land eine der höchsten Todesraten weltweit. Aber laut der Bürgermeisterin Bogotás soll nun plötzlich die sogenannte Neue Realität beginnen. Kurz vorher hieß es noch: ‘Die Krankenhäuser sind überfüllt. Bleibt zu Hause!’ Und jetzt können auf einmal die Restaurants öffnen.
Seit März galt hier ja eine strikte Ausgangssperre: Das Haus durften wir nur zum Einkaufen verlassen, je nach Ausweisnummer nur jeden zweiten Tag. Ich freue mich natürlich, wieder draußen zu sein, mit Maske in Cafés und Restaurants gehen zu können. Ein mulmiges Gefühl habe ich trotzdem. Ich finde, man müsste den Übergang behutsamer gestalten.»
Politik: «Ex-Präsident Uribe spaltet nicht nur das Land, sondern auch Familien»
«Wir diskutieren gerade über den Hausarrest des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe. Er spaltet nicht nur das Land, sondern auch Familien. Seine Anhänger, die Uribisten, meinen, er hätte es als Einziger geschafft, die Guerillagruppe Farc einzudämmen. Seine Gegner halten ihn jedoch für einen Massenmörder.
Der größte Skandal der Regierung Uribe waren die sogenannten Falsos Positivos: Soldaten ermordeten zahlreiche unschuldige Zivilisten und verkleideten sie als Farc-Kämpfer. So besserte das Heer seine Statistik im Kampf gegen die Guerilla auf, und die Verantwortlichen erhielten Prämien im Kampf gegen die Guerilla.
Das alles fand während Uribes Präsidentschaft zwischen 2002 und 2010 statt, und ich finde, Uribe hat den Konflikt mehr angeheizt als versöhnt. Carlos' Vater hingegen ist Uribist; seine Familie hat Mode im ganzen Land verkauft — und Unternehmer haben unter Uribe profitiert. Carlos vertritt auch einige seiner Argumente: Während Uribes Präsidentschaft sind die Straßen sicherer geworden, die Unternehmer konnten ihr Geschäft ausbauen. Doch gerade jetzt, wo immer mehr Informationen über Uribe veröffentlicht werden, kann Carlos viele meiner Argumente nachvollziehen.»
Arbeit und Geld: «Früher kam zweimal pro Woche eine Haushaltshilfe zum Putzen und Kochen. Die haben wir jetzt gekündigt»
«Durchschnittlich verdienen die Menschen in Kolumbien etwa 290 Euro pro Monat. Uns geht es im Vergleich zu vielen anderen kolumbianischen Familien wirklich gut, wir sind privilegiert, dafür bin ich dankbar. Während der Pandemie haben Menschen hier gehungert.
Trotzdem sorge auch ich mich ums Geld. Früher haben Carlos und ich beide etwa 7,5 Millionen Pesos, umgerechnet 1700 Euro, verdient. Wegen der Pandemie hat seine Firma, die mit Kinderspielzeug handelt, sein Gehalt um ein Drittel gekürzt; trotzdem arbeitet er weiterhin knapp 40 Stunden pro Woche. Als ich mit Antonia schwanger war, entließ mein ehemaliger Arbeitgeber viele Mitarbeiter, auch mich.
Ich habe vor ein paar Monaten begonnen, in der Firma eines Freundes als Projektmanagerin für Videos und Animationen zu arbeiten; ich muss viel mit Kunden aus dem Ausland telefonieren und zum Beispiel Dreharbeiten planen. Mein Verdienst: zwei Millionen Pesos, etwa 460 Euro. Ich möchte aber wieder mehr arbeiten und mehr verdienen.
Wir besitzen drei Eigentumswohnungen, zwei haben wir vermietet, aber erst eine ist abbezahlt. Meine und Carlos’ Eltern mussten uns zwischenzeitlich aushelfen. Vor der Pandemie kam zweimal pro Woche eine Haushaltshilfe zum Putzen und Kochen. Die haben wir gekündigt. Jetzt, wo wir beide wieder Vollzeit arbeiten, hilft uns Martha: Sie kocht und putzt und kümmert sich auch um Antonia. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie arbeiten wir beide im Kinderzimmer von Antonia. Am Anfang stand sie oft weinend davor, weil sie hineinwollte. Jetzt klappt es eigentlich ganz gut.»
Sorgen und Wünsche: «In Kolumbien gilt: Eine wirklich gute Bildung gibt es nur an Privatschulen»
«Es ist verrückt, aber wir machen uns jetzt schon Gedanken um Antonias Schullaufbahn. Bei einer Eineinhalbjährigen! In Kolumbien gilt: Eine wirklich gute Bildung gibt es nur an Privatschulen. Ich war auch auf einer in meiner Heimstadt Cali. Wir schauen uns schon jetzt Schulen für Antonia an. Die sind nicht nur teuer, umgerechnet etwa 6800 Euro pro Jahr; sondern man kommt auch oft nur über Kontakte überhaupt an einen Platz. Am besten sollte sie nicht zu weit entfernt liegen. Es ist für uns keine Option, dass Antonia den Bus nimmt.
Im Busverkehr gibt es immer wieder Überfälle und Diebstähle. Beim Einstieg verletzen sich Menschen im Gedränge. Ich würde mich um ihre Sicherheit sorgen. Meine Schwiegermutter Martha wurde einmal mitten am Tag entführt. Damals war sie noch nicht von Carlos' Vater geschieden und hat in der Modefirma gearbeitet. Zwei Wochen hielten die Erpresser sie fest, bevor sie freigelassen wurde. Auch wenn dies schon zehn Jahre zurückliegt, bleibt so etwas in der Familie haften; dann wird man vorsichtiger.
Auch deswegen haben wir gerade erst darüber gesprochen, ob wir aufs Land ziehen wollen; irgendwo in die Umgebung der Stadt. Das wäre sicherer, die Luft ist besser, und wir könnten selbst Gemüse anbauen.»
Gleichberechtigung: «Viele Kolumbianerinnen übernehmen wie selbstverständlich alles im Haushalt»
«Neulich waren wir bei Freunden zu Besuch. Meine Freundin hat den Tisch gedeckt, gekocht, abgewaschen — ihr Mann hat keinen Finger gerührt! Das ist leider viel zu häufig so. Carlos geht meist für uns um die Ecke einkaufen, er liebt Kochen. Viel penibler als ich ist er sowieso. Vor einigen Jahren sind wir zusammengezogen — seitdem schläft mein Hund nicht mehr mit mir im Bett. Ich habe Glück gehabt. Dabei haben wir uns über Tinder kennengelernt, eigentlich nicht der Ort, an dem ich erwartet hatte, meinen Ehemann zu treffen.
Heute Abend wäscht Martha ab, wir müssen morgen ja wieder raus. Früher ist Carlos um fünf Uhr aufgestanden — früh aufstehen ist in Kolumbien relativ üblich. Heute stellt er den Wecker auf halb sieben. Ich stehe erst um acht auf, und Antonia lassen wir schlafen.»
Liliana Merizalde Gonzalez / DER SPIEGEL
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Source: spiegel.de
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