Frankfurter Flughafen, Montag, 24. August. Um 10:50 Uhr hebt eine fast nagelneue Maschine von United Airlines vom Asphalt ab; acht Stunden später setzt die Boeing 787 heil in Newark auf. Seither steht die Maschine am Boden, denn dass Flug UA 961 die Passagiere sicher nach New York City gebracht hat, war offenbar keinesfalls selbstverständlich.
Einen Tag später hat Boeing den Flieger Hals über Kopf stillgelegt. Ingenieure des Herstellers hegen die Sorge, dass dieses Flugzeug in der hinteren Rumpfsektion mehrere Produktionsfehler gleichzeitig aufweisen könnte. Im schlimmsten Fall droht es dann offenbar in der Luft aufzuplatzen, weil die Maschine den strukturellen Belastungen eines normalen Flugs nicht gut standhalten kann.
Von wegen «Dreamliner»
Sieben weitere «Dreamliner» hat Boeing wegen akuter Sicherheitsbedenken aus dem Verkehr gezogen. Gebaut wurden sie im Jahr 2019; bis vor kurzem waren sie noch bei Singapore Airlines, Air Canada, Etihad Airways oder Norwegian im Einsatz. Sie alle sollen nun umfangreich untersucht werden.
Für den einst weltweit hochgeachteten Flugzeughersteller kommt es knüppeldick. Sein Bestseller — die Boeing 737 Max — steht nach zwei Crashs mit 346 Toten seit anderthalb Jahren weltweit zwangsweise am Boden, weil er in Teilen eine lebensgefährliche Fehlkonstruktion ist. Jetzt mehren sich die Hinweise, dass auch der erfolgreiche Langstreckenjet 787 deutlich mehr Qualitätsprobleme hat als bisher bekannt.
Die US-Luftfahrtbehörde FAA hat jetzt gegen den Hersteller eine weitere offizielle Untersuchung eingeleitet. Noch mehr Stilllegungen stehen bisher offenbar nicht an, weil wohl nur sehr wenige Flugzeuge von zwei Mängeln gleichzeitig betroffen sind. Womöglich ordnet die FAA aber jetzt eilige Inspektionen bei nahezu allen Maschinen vom Typ 787 an — das beträfe rund 1000 Stück die seit der Indienststellung 2011 gebaut wurden.
Höhenflosse mit Materialermüdung
Am Dienstag räumte Boeing einen weiteren gravierenden Mangel ein, von dem die Firma schon seit Februar weiß. Bei 893 Exemplaren der 787 kommt es im Bereich der Höhenflosse zu einer vorzeitigen Materialermüdung. Alle betroffenen Maschinen sind offenbar noch jung genug, sodass der Materialfehler zunächst keine sicherheitsrelevanten Auswirkungen haben sollte.
Bei neuen Flugzeugen will Boeing das Problem aber vor Auslieferung beheben, was dazu führt, dass die Firma in diesem Jahr weniger Flugzeuge als geplant an ihre Kunden übergeben kann. Boeings Umsatz — massiv geschrumpft wegen der Coronakrise und des 737-Max-Debakels — schrumpft weiter.
Insbesondere das 2009 eröffnete Boeing-Werk im US-Bundesstaat South Carolina fällt immer wieder wegen massiver Qualitätsprobleme auf. Abfall und vergessene Werkzeuge wurden in hier gebauten Maschinen entdeckt, etwa in den Tragflächen oder in sensiblen Regionen unterhalb des Cockpits. Der Großkunde Qatar Airways, so berichtete die «New York Times» im vergangenem Jahr, hat wegen der vielen Mängel beschlossen, nur noch Flugzeuge aus dem Stammwerk in Everett im Bundesstaat Washington zu akzeptieren.
Ein Grund für die vielen Produktionsfehler: Eilige Manager haben Bedenken ihrer Ingenieure und Prüfer gerne zur Seite geschoben und sie unter Druck gesetzt, auf mehr Sicherheitsmaßnahmen zu verzichten. Viele dieser Techniker haben sich mit Beschwerden an die FAA und an die Medien gewandt.
Strafen in Millionenhöhe für Boeing
Mittlerweile hat die FAA Boeing mit mehreren Millionenstrafen belegt — doch ob das reicht, die offensichtlich angeschlagene Sicherheitskultur in dieser Firma zu verändern, bleibt zweifelhaft. Boeing hat in den letzten Jahren auffällig viel Pfusch beim gesamten Herstellungsprozess seiner Flugzeuge zu verantworten, vom Design über die Zulassung bis zur Produktion.
Die Hoffnungen der Konzernchefs richten sich jetzt auf die Wiederzulassung der 737 Max, die tatsächlich kurz bevorstehen könnte. Die FAA hat ihre Testflüge mit der modifizierten Maschine abgeschlossen. Seit dieser Woche sind Piloten der europäischen Flugsicherheitsbehörde EASA dabei, das Flugzeug vom kanadischen Vancouver aus zu prüfen.
Boeing hat einige technische Systeme an ihr verbessert, was dringend notwendig war. So hatte bislang ein einziger Sensor auf der Außenhaut ermittelt, ob dem Flugzeug eine gefährliche, zu steile Fluglage droht. Wenn ja, sollte eine neuartige automatische Steuerungssoftware namens MCAS („Maneuvering Characteristics Augmentation System") eingreifen und die Nase automatisch absenken. Ist dieser eine Sensor aber kaputt, funktioniert auch MCAS nicht richtig und erzwingt eine Änderung der Flugbahn direkt Richtung Boden.
Dies war einer der Gründe für die beiden 737-Max-Abstürze in Indonesien und Äthiopien. Von nun an sind beide der vorhandenen Sensoren an der Ermittlung der Fluglage beteiligt, einer links vom Rumpf, einer rechts.
Dies ist ein Gewinn an Sicherheit, allerdings hatten EASA-Experten darauf gedrängt, dass drei Sensoren zum Einsatz kommen sollten. Wenn ein Wert stark abweicht, sollte das System die Messwerte der beiden übrigen zu seiner Grundlage machen.
Diese Forderung umzusetzen, würde aber umfangreiche Änderungen nach sich ziehen und Boeing um Monate oder gar Jahre zurückwerfen. Die EASA scheint sich jetzt auf einen Kompromiss einzulassen, wonach Boeing erst in Zukunft ein Hilfssystem entwickelt, das die Leistung der beiden Sensoren kontrolliert. Bis dahin sollen neue Cockpit-Verfahren für ausreichende Sicherheit sorgen.
Wann fällt das Flugverbot für die 737 Max?
Die 737 Max könnte in den USA schon im November wieder fliegen, in Europa und weiten Teilen der Welt dürfte das Flugverbot etwas später zurückgenommen werden. Überall allerdings werden bestehende 737-Piloten extra im Simulator für die 737 Max geschult werden müssen. Boeing hatte ursprünglich darauf bestanden, dass es so gut wie keine Zusatzausbildung geben sollte. Die Firma warb damit, dass Schulungskosten in dieser Maschine kaum anfallen — und nahm dabei offenbar in Kauf, dass schlechter geschulte Piloten eben auch schlechtere Flugzeugführer sind.
Mehr als 450 Maschinen vom Typ 737 Max stehen jetzt auf diversen US-Flughäfen dicht an dicht gedrängt und warten auf ihre Auslieferung. An ihnen hat Boeing noch einiges zu erledigen: Die FAA hat einen weiteren Konstruktionsfehler entdeckt: Die Verkabelung im Rumpf muss abschnittsweise geändert werden, ehe das Flugzeug in Dienst gestellt werden darf. Und in manchen Tanks der 737 Max haben Techniker ebenfalls vergessene Werkzeuge und Müll aus dem Produktionsprozess gefunden.
Source: spiegel.de
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