Für viele junge Frauen ist Turnen ihr Leben, sie sind talentiert, gewinnen Medaillen. Doch für zu viele von ihnen kamen diese Erfolge zu einem hohen Preis. In den USA hatte sich Teamarzt Larry Nassar über Jahre hinweg an jungen Sportlern vergangen, meist Mädchen und junge Frauen, ermöglicht durch ein Klima, in dem es allein um Leistung geht.
Seit einigen Wochen entlarven Dutzende aktuelle und ehemalige britische Turnerinnen eine Trainingskultur, die offenbar bis heute seelischen und körperlichen Missbrauch nicht nur toleriert, sondern begünstigt. Zuletzt haben Turnerinnen in Australien und den Niederlanden ähnliche Systeme angeprangert. Lisa Mason war eine der ersten Frauen, die ihre Geschichte erzählt und damit vielen Betroffenen weltweit Mut gemacht hat.
Lisa Mason, 38, war eine britische Turnerin. Ihre größten Erfolge feierte sie mit Gold und Team-Silber bei den Commonwealth Games 1998. Nach den Olympischen Spielen 2000 beendete sie ihre Karriere. Seither arbeitet sie als Trainerin, Choreografin, Sport- und Fitnessmodel. Sie prangert erschreckende Zustände im britischen Sport an.
SPIEGEL: Warum haben Sie sich ins Turnen verliebt?
Lisa Mason: Ich wurde von meinen Eltern zum Turnen geschickt, als ich fünf Jahre alt war, weil ich mit meinen Brüdern immer auf dem Dach unseres Hauses herumgeturnt bin. Ich hatte einfach eine Menge Energie, und die musste irgendwo hin. Ich habe es geliebt, neue Übungen zu lernen, habe das Gefühl geliebt, zu fliegen.
SPIEGEL: Sie waren so etwas wie ein Naturtalent.
Mason: Die Übungen flogen mir einfach zu. Man konnte mir eine Turnerin zeigen, die eine Übung macht, und ich konnte das direkt kopieren. Davon waren viele Trainer begeistert. Ich habe schon als Juniorin immer mit den Älteren trainiert, weil ihre schweren Übungen für mich einfach waren. Als junges Mädchen fand ich das super. Aber damit stieg auch der Druck. Ich werde nie vergessen, wie mein Trainer sagte: «Wenn du Turnerin sein willst, musst du mit der Schule aufhören, du musst zu Hause aus- und bei uns einziehen.» Also habe ich, seit ich zwölf war, bei meiner Trainerin und meinem Trainer gewohnt.
SPIEGEL: An einem Stützpunkt?
Mason: Nein, bei ihnen Zuhause. Das war damals so. Und ich ging auch nicht mehr zur Schule. Ich habe früh angefangen, Turnen als meinen Job zu bezeichnen. Es war schon damals wirklich schwer, überhaupt noch Freude am Sport zu finden.
«Es war einfach furchtbar, es war grausam.»
SPIEGEL: Damals waren Sie zwölf — und hatten schon Jahre des körperlichen Missbrauchs hinter sich. Mit zehn Jahren waren sie erstmals so weit zu sagen: Ich will das nicht mehr. Wie konnte es so weit kommen?
Mason: Damals brauchte man noch keine Qualifikationen, man konnte einfach Trainer sein. Da war ich also, dieses kleine sechs, sieben Jahre alte Mädchen, und ich sollte diese großen Schwünge am Barren machen. Dafür sollte ich Handschützer tragen. Das hat aber nicht funktioniert, weil ich so kleine Hände hatte und die Holzholmen damals so groß waren. Meine Trainer haben mich trotzdem trainieren lassen, bis meine Hände aufgerissen und blutig waren. Nur um sie dann mit Reinigungsalkohol zu übergießen, um die Blasen auszutrocknen, damit ich weiter trainieren konnte. Und natürlich war das mein Fehler, denn ich wollte ja keine Handschützer tragen.
Ein anderes Mal sollte ich Spagat machen, ich war vielleicht fünf oder sechs. Dabei hat einer meiner Coaches mein rechtes, einer mein linkes Bein gehalten und sie haben mich hochgehoben, bis es so sehr wehtat, dass ich mich mit den Händen auf dem Boden abgestützt habe. Dann kam ein anderer und drückte meinen Bauch auf den Boden, setze sich auf meinen Rücken. Als ich acht war, habe ich mir ernsthaft das Genick verletzt, als ich im Wettkampf eine Übung machen musste, die für Erwachsene gedacht war und die ich kaum trainiert hatte. Ich krachte dabei mit dem Nacken auf den Holmen. Und jeden Tag sagt dir jemand trotzdem, dass du nicht gut genug bist, dass du undankbar bist, dass du nichts wert bist. Es war einfach furchtbar, es war grausam.
SPIEGEL: So etwas wie Schmerzen gab es in der Welt Ihrer Trainer nicht?
Mason: Nein, natürlich nicht. Wir haben regelmäßig verschreibungspflichtige Schmerzmittel eingeworfen, um durchs Training zu kommen, seit wir zwölf waren. Und wenn das nicht gereicht hat, gab es Kortisonspritzen. Heute denke ich: Holy shit, wie konnten sie damit durchkommen? Damals war das für uns ganz normal.
SPIEGEL: Warum haben Sie sich gerade jetzt zu Wort gemeldet?
Mason: Ich habe die Zustände schon früher angeprangert. Aber wie bei vielen Sportverbänden üblich hat auch British Gymnastics mit Schmierkampagnen und Rufschädigung auf jeden reagiert, der es gewagt hat, den Mund aufzumachen. Das war mein eigener Verband, der mich eigentlich schützen sollte! Stattdessen wurde ich als Unruhestifterin abgestempelt. Mir wurde immer gesagt: Turnerinnen sollen gesehen werden, nicht gehört.
SPIEGEL: Das ging bis zu dem Punkt, dass Sie mit 19 Jahren zurückgetreten sind.
Mason: Ja, nach den Olympischen Spielen hatte mich der Verband sogar suspendiert. Ich sei aggressiv, hieß es, würde mich nicht professionell verhalten. Seit einigen Wochen bekomme ich viele Mails von ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, die sagen: Es tut mir leid, dass ich die Lügen über dich geglaubt habe, statt dir zu glauben. Das ist ihre Maschen: Entzweie und herrsche.
SPIEGEL: Was fordern Sie für die Zukunft?
Mason: Ich habe stets betont, dass es mir nicht um eine Hexenjagd geht. Müssen Leute an der Spitze von British Gymnastics zurücktreten, weil sie zu viele von uns im Stich gelassen haben, weil sie die Täter geschützt haben und nicht die Überlebenden? Natürlich. Doch wenn wir immer nur mit dem Finger auf einzelne Leute zeigen, dann sind wir damit im Turnen ewig beschäftigt. Wir müssen Lösungen finden, wir müssen die Trainer umerziehen, klarstellen, dass dieses Siebzigerjahre-Gedankengut von Missbrauch und Kontrolle nicht der Weg zur Medaille sein muss. So viele Talente sind mit 17 Jahren und nach zahlreichen Operationen schon Sportrentnerinnen. Das sollte nicht sein. Ich sehe keinen Grund, warum eine 20 Jahre alte Frau als zu alt empfunden wird, nur weil sie Brüste hat. Uns wurde stets eingebläut, dass wir nur zwischen 16 und 20 Jahren erfolgreich sein können. Dabei sollte unser Sport Turnen von Frauen sein, von erwachsenen Frauen. Wir müssen einen Weg finden, dass wir den Sport genau da hinbringen, ohne die Mädchen komplett zu zerstören, bevor sie überhaupt Frauen werden. Dafür müssen wir alles auf den Prüfstand stellen: Geräte, Ausbildung, Übungen, Trainingszeiten.
SPIEGEL: Sie haben zahlreiche Nachrichten von Betroffenen bekommen in den vergangenen Wochen. Wie viele Geschichten haben Sie gehört, wie groß ist das Problem im britischen Turnen?
Mason: So viele. Ich höre immer noch von Trainern, die sagen: Ich will nicht, dass meine Kids darunter leiden müssen, wenn ich mich zu Wort melde. Frauen in ihren Fünfzigern sagen: Ich kämpfe immer noch mit den Folgen des Missbrauchs. Mir schreiben Partner, dass ihre Lebensgefährtin darunter zu leiden hatte, und sie nicht wissen, wie sie sie unterstützen sollen. Und ich höre so viele Namen, bei denen selbst ich total überrascht und entsetzt bin, dass diese Menschen zu den Tätern gehören. Das alles bricht mir das Herz. Physischer und psychischer Missbrauch ist einfach so tief verwurzelt in der Kultur unseres Sports. Das ist es, was die Leute verstehen müssen: Turnen ist eine sehr abgeschottete Sportart, eine, die das ganze Jahr über stattfindet, die keine Pausen hat. Die Sportler sind komplett isoliert von der Außenwelt, einer Welt, die ihnen sagen kann: Das ist nicht okay, was ihr aushalten müsst, das ist nicht der Preis, den ihr zahlen müsst, weil eure Familien schon so viel für euch geopfert haben.
«Wenn wir immer nur mit dem Finger auf einzelne Leute zeigen, dann sind wir damit im Turnen ewig beschäftigt.»
SPIEGEL: Hat British Gymnastics Kontakt zu Ihnen aufgenommen?
Mason: Nein, mich haben sie nicht kontaktiert. Und ich glaube auch nicht, dass das passieren wird. Aber wir führen bereits viele Gespräche mit Führungsfiguren in unserem Sport. Nur: Vieles von dem, was wir ändern müssen, werden wir nicht verändern, indem ich loslaufe und sage: «Hallo lieber Weltverband, ich will, dass ihr das und das reformiert.» Es braucht die schlausten Köpfe unseres Sports, um Konzepte zu erarbeiten und Dinge auf allen Ebenen zu verändern. Glaube ich, dass sich direkt etwas verändern wird? Nein, ich glaube, es müssen noch sehr viel mehr Stimmen laut werden. Wir müssen den Druck weiter erhöhen.
SPIEGEL: In den USA werden die Athletinnen, die den Mut hatten, den langjährigen sexuellen Missbrauch durch Larry Nassar anzuprangern, seit Jahren immer wieder von ihrem Verband und dem Nationalen Olympischen Komitee enttäuscht. Sind Sie besorgt, dass sich trotz allem nichts ändern könnte?
Mason: Wer glaubt, wir können alles Schlechte in unserem Sport direkt ausmerzen, ist verblendet. Aber es muss etwas passieren. Es kann nicht sein, dass so viele Menschen den Mund aufmachen und nichts geschieht. Irgendwann muss es auch ein Treffen mit den Verbänden geben. Sie können sich nicht für immer verstecken. Wir geben uns nicht mehr mit Lippenbekenntnissen zufrieden. Wir wollen echte Veränderung sehen.
SPIEGEL: Würden Sie jungen Mädchen heute zum Turnen raten?
Mason: Ich glaube, jedes kleine Mädchen kann sich in diesen Sport verlieben. Ich liebe diesen Sport nach wie vor. Jeder, der Turnen schaut, muss es einfach lieben. Und wir haben großartige junge Coaches, die für ganzheitliches Training stehen. Es ist immer noch ein unglaubliches Gefühl, Dinge tun zu können, die andere Leute nicht können. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Monster diesen wunderschönen Sport ruinieren.
Source: spiegel.de
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