Je älter ich werde, desto mehr lerne ich, dass ich umso weniger lerne, je älter ich werde.
Am wenigsten lerne ich aus meinen Fehlern. Dass man im Alter angeblich weiser wird, ist eine Binsenweisheit, aber sie trifft nicht zu, zumindest nicht für mich. Ich werde ruhiger, und das tarnt sich dann manchmal als Lebensweisheit. Ist es aber nicht.
Zum Beispiel Softeis. Jedes Mal, wenn ich das esse, bekomme ich Kopfschmerzen, weil ich es zu schnell esse, wie ein Kind. Seit Wochen hält der Eis-Truck von «Mr. Softee» jeden Nachmittag bimmelnd vor unserem Haus. Seit Wochen habe ich dann wenige Minuten später Kopfschmerzen.
Ich weiß seit Jahrzehnten, wie das geht. Das Gehirn schlägt Alarm und sagt: nicht so schnell! Deshalb heißt das auf Englisch «brain freeze«. Doch seit Jahrzehnten esse ich mein Softeis trotzdem weiter zu schnell. Jedes Mal.
Ein Opa kommt selten allein
Oder unser Couchtisch. Natürlich weiß ich, wo der steht und wie man daran gefahrlos vorbeigeht, ohne anzustoßen. Und doch stoße ich immer wieder mit dem Schienbein an derselben Stelle an.
Oder, eine etwas andere Dimension: Beziehungen. Jahrelang verfolgte ich die gleiche Art von Beziehung, nämlich die Art, die nicht funktionierte. Erst in der Midlife-Phase habe ich gelernt, woran das liegt. Seitdem bin ich happy zu zweit. Better late than never. So hieß übrigens 1983 eine Filmkomödie mit David Niven. Deutscher Titel: «Ein Opa kommt selten allein.»
Alter schützt vor Torheit nicht: Dieses Klischee stammt von William Shakespeare, der es Cleopatra in den Mund legte: «Wenn mich das Alter auch nicht schützt vor Torheit, doch wohl vor Kindischsein», klagt sie in «Antonius und Cleopatra». Das endete bekanntlich nicht gut. Apropos Alter: Die echte Cleopatra wurde 39, was damals als hohes Alter galt.
Alter schützt vor Torheit nicht, sagte Cleopatra laut Shakespeare — hier dargestellt von Elizabeth Taylor (1963)
Foto: Girolamo di Majo/ AP
Lernen wir aus unseren Fehlern? Lernen wir aus unserer Geschichte? Ist die Menschheit überhaupt lernfähig? Können wir das bisschen, was wir am Ende vielleicht doch noch lernen, an die nächste Generation weitergeben?
Die Antwort darauf scheint deprimierend klar und hat vier Buchstaben.
Die dauerhafte Unannehmlichkeit des Todes
Das gilt nicht nur für Softeis, sondern auch für harte Realitäten. In den Achtziger- und Neunzigerjahren sah ich viele Freunde an Aids sterben. Nicht alle lernten sofort, wie lebenswichtig es ist, dem Rat der Ärzte zu folgen, sosehr einem dieser Rat auch den Way of Life vergrätzen mag: Schützt euch mit Kondomen.
Jetzt raten die Experten wieder etwas, was vielen den Way of Life vergrätzt: Schützt euch mit Masken. Und doch ist es, als fingen wir bei null an. Als müssten wir die Renitenten davon überzeugen, dass die vorübergehende Unannehmlichkeit eines Mundschutzes immer noch besser ist als die dauerhafte Unannehmlichkeit des Todes.
Maske oder nicht? US-Präsident Trump
Foto: KEVIN LAMARQUE/ REUTERS
Höhepunkt der Ironie: Eine der Gruppen in meinem Umfeld, die die Corona-Vorgaben am dreistesten missachten, sind jüngere Schwule. Als New York City noch gegen das Virus kämpfte, feierten sie schon vor den Bars in Manhattan. Und am Feiertagswochenende des 4. Juli tanzten sie am Strand der Schwulenenklave Fire Island Pines, dicht an dicht, ohne Distanz oder Masken. Nichts gelernt aus den Fehlern ihrer Vorfahren.
«Wer seine Geschichte leugnet, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.» Dieses frei abgewandelte Zitat des Philosophen George Santayana flackerte neulich mal wieder über Twitter. Wer postete es? Ausgerechnet US-Präsident Donald Trump, der es aber absichtlich missdeutete, um damit seinen Kulturkrieg um die rassistische Vergangenheit Amerikas anzufachen.
Und doch trifft dieses Zitat gerade auf Trump zu. Denn der wirft die Frage auf: Haben die Amerikaner nichts aus der Geschichte gelernt? Zumindest aus der Geschichte Europas?
Wie konnte es so weit kommen?
Lügen und Staatspropaganda halten einen Großteil des Landes im Griff. Paramilitärische Polizeitruppen kämpfen gegen die eigenen Landsleute. Hakenkreuze sind nicht mehr tabu. Und der mächtigste Mann an der Spitze ist ein cholerischer, skrupelloser Narzisst, der vor nichts zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben.
«Faschismus fürs Fernsehen»: Paramilitärische US-Polizei in Portland
Foto: NATHAN HOWARD/ REUTERS
Wie konnte es so weit kommen? «Faschismus fürs Fernsehen» oder «performativer Faschismus»: So nennen Kritiker die Szenen der vergangenen Tage. Wiederholt sich Europas Geschichte in den USA?
«Im Gegensatz zu Deutschland haben die USA den kriminellen oder verdammenswerten Abschnitten ihrer Geschichte nie genug Aufmerksamkeit geschenkt», warnte mich der Harvard-Historiker Daniel Goldhagen schon 1997, als ich ihn über sein aufsehenerregendes Buch «Hitlers willige Vollstrecker» interviewte. Jetzt rächt sich sein Orakel.
Trotzdem: Die US-Massenproteste der vergangenen Monate lassen hoffen, dass einige hier vielleicht doch aus den Fehlern der Geschichte lernen. Viele Demonstranten sind junge Menschen, doch neuerdings schließen sich ihnen auch Frauen und Männer mittleren Alters an — und sogar ein paar Großeltern.
«Mr. Softee» hält bimmelnd vorm Haus. Ich bin dann mal kurz raus. Kopfschmerzen inklusive.
Source: spiegel.de
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