Als Richard Virenque am 18. Juli 1995 nach einsamer Flucht das Ziel erreicht, strahlt er über beide Ohren. Der Franzose, ein tänzelnder Bergspezialist, hat gerade eine der Königsetappen der Tour de France bezwungen. Sein gepunktetes Trikot als bester Bergfahrer ist gesichert. Warum sollte er nicht strahlen?
Doch sein Sportdirektor fällt ihm nicht voller Glück um den Hals. Er nimmt den Fahrer beiseite und flüstert ihm die traurige Nachricht ins Ohr — Virenque bricht zusammen, kämpft mit den Tränen, schluchzt los, vor den Augen und Kameras der gesamten Sportwelt.
Richard Virenque, die große Nachwuchshoffnung des französischen Radsports, widmet diesen Sieg bei der 15. Etappe später der großen Nachwuchshoffnung des italienischen Radsports. Denn Fabio Casartelli, 24 Jahre alt, Olympiasieger von Barcelona und Vater eines dreimonatigen Sohnes, ist schwer gestürzt. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Es ist der dritte Todesfall auf den Straßen der Tour – bis heute der letzte.
Etwa sieben Stunden zuvor: Herbert Watterott nimmt in Cauterets, Zielort in den Pyrenäen, auf der Fernsehtribüne Platz, um die Tour für die ARD zu kommentieren. «Es war Volksfeststimmung, wie das bei Bergetappen im französisch-spanischen Grenzgebiet immer so ist», erzählt der erfahrene Reporter dem SPIEGEL 25 Jahre danach, «ein wunderbarer Tag, blauer Himmel, schon 30 Grad am Morgen.»
Auf die Fahrer wartet ein brutaler Tag: 206 Kilometer, über einige der höchsten und gefürchtetsten Anstiege, über den Peyresourde, den Col d'Aspin, den Tourmalet. Der erste Berg des Tages, der Col de Portet d'Aspet, ist eher unscheinbar, hat aber eine teuflisch steile Abfahrt mit 17 Prozent Gefälle.
«Die Abfahrt war zwar schnell, aber eigentlich nicht gefährlich»
«Die ARD hat die 15. Etappe von Beginn an live übertragen – sehr ungewöhnlich», sagt Watterott. «Normalerweise schalteten wir erst für die letzten Stunden des Rennens hinzu.» Diese Ausnahme hatte Folgen. Die Zuschauer sahen Fabio Casartelli tödlichen Sturz fast in Echtzeit, für Watterott wurden es die schwierigsten Fernsehminuten seiner Karriere.
1995 ist Herbert Watterott schon zum 30. Mal als Reporter dabei. Als begeisterter Tour-Historiker kennt er Tausende Anekdoten und weiß auch, dass die Tour de France in ihrer bis dahin 82-jährigen Geschichte erst zwei Fahrer das Leben gekostet hat. 1934 stürzte Francesco Cepeda bei einer Abfahrt. Zuschauer halfen ihm zurück aufs Rad, doch der Spanier fiel wenig später in Ohnmacht und wachte nicht mehr auf.
Und 1967 – es war Watterotts dritte Tour – starb der Brite Tom Simpson am Mont Ventoux. Vollgepumpt mit Medikamenten und Alkohol, bei enormer Bruthitze, kippte Simpson kurz vor dem Gipfel vom Sattel.
Nichts deutet 1995 auf ein erneutes Verhängnis hin. Im Peloton, das sich am 18. Juli den Portet d'Aspet hochschlängelt, fährt auch Dirk Baldinger. Es ist seine erste Tour de France, für das italienische Team Polti. Fünf Tage vor der Ankunft in Paris ist der deutsche Profi guter Dinge: Selbstverständlich ist es nicht, dass ein Debütant die Tour zu Ende fährt.
Bei der Abfahrt hält sich Baldinger in der Mitte des Feldes, einige Positionen vor ihm: Fabio Casartelli. Das langgezogene Peloton wirkt von oben wie eine Perlenschnur, als die Fahrer in Richtung Tal sausen. «Wir hatten uns am Abend zuvor natürlich die Strecke angeschaut», sagt Baldinger heute, «die Abfahrt war zwar schnell, aber eigentlich nicht gefährlich.»
Die Etappe läuft weiter
Gegen 11.30 Uhr, auf Streckenkilometer 34, kommt es zum Sturz. «Ich kam aus einer langgezogenen Linkskurve, da lagen plötzlich einige Fahrer auf einem Haufen, mitten auf der Straße. Ich sah noch die Betonblöcke, die am rechten Straßenrand den Abgrund markierten», erinnert sich Dirk Baldinger. Dann fliegt er über den Lenker.
Auf der Pressetribüne am Ziel verfolgt Herbert Watterott den Sturz: Ein Motorrad mit einem französischen Kameramann erreicht nur wenige Sekunden später den Ort des Sturzes. «Der Staub hat noch gewirbelt, und der Kameramann filmt die Situation. Da hat man ihn schon liegen sehen, Fabio Casartelli mit der Startnummer 114, er lag gekrümmt auf dem Asphalt», sagt Watterott.
Um ihn herum schreien die Reporter in ihre Mikrophone: Chute, Crash, Sturz! Schon auf den ersten Bildern rinnt das Blut die Straße hinab. «Mir stockte die Stimme, als ich Casartelli dort regungslos liegen sah», sagt Watterott.
Bürhaus/ imago images
Der Regisseur des französischen Fernsehens, das allein Kameras auf der Strecke hat und den ausländischen Sendern Bilder bereitstellt, erkennt die Dramatik der Situation. «Die Franzosen haben nach den ersten Aufnahmen schnell weggeschaltet», so Watterott. In dem Moment war ihm klar: «Das ist kein Tour-Alltag, hier ist etwas Schlimmes passiert.»
Dass Fabio Casartelli, Profi aus der Lombardei, der dritte Tote auf den Straßen der Tour sein wird, wissen Baldinger, Watterott und die Zuschauer lange nicht. Denn die Etappe läuft weiter. Im nächsten Anstieg attackiert Richard Virenque (einige Jahre später wegen Dopings aus dem Radverkehr gezogen) aus einer Gruppe heraus und macht sich auf zu seinem stundenlangen Alleingang.
«Die einzige Informationsquelle damals war der Tourfunk, Radio Tour», erzählt Herbert Watterott. «Weil von denen keine brauchbaren Infos kamen, merkte ich sofort, dass es schlimm sein musste. Es war etwas passiert, was wir nicht wissen durften. Noch nicht.» Am späten Nachmittag, spricht Tourdirektor Jean-Marie Leblanc in den Tourfunk: «Meine Damen und Herren, auf dem Weg ins Krankenhaus ist Fabio Casartelli gestorben.» Der junge Italiener hatte sich schwere Kopfverletzungen zugezogen, im Rettungshubschrauber blieb sein Herz stehen.
«Fabio war ein Kind wie wir»
Reporter Watterott ist live auf Sendung: «Da war erst mal Stille. Ich konnte im ersten Moment nicht weitersprechen, jedes Wort kam mir überflüssig vor. In mir war einfach eine unheimliche Traurigkeit. Ich war 1992 in Barcelona, als Casartelli Olympiasieger wurde. Jetzt war er tot.» Massimiliano Lelli, Casartellis ehemaliger Teamkollege und Zimmernachbar bei Rennen, sagte später der Sportzeitung «L'Equipe»: «Wir haben alle angefangen zu weinen, im Peloton. Fabio, er war ein Kind wie wir.»
War Casartellis Tod vermeidbar? In den Tagen danach begann im Radsport die neuerliche Diskussion um eine Helmpflicht. Erst vier Jahre zuvor hatte die medizinische Kommission des Verbandes UCI sie einzuführen versucht – aber die Fahrer selbst protestierten. Zu warm und ungemütlich sei es an den heißen Sommertagen in den Alpen oder Pyrenäen. Sie drohten mit Streik, die UCI machte ihre Ankündigung rückgängig.
Auch die deutschen Profis waren uneins über Sturzhelme. Udo Bölts, Edelhelfer der späteren Tour-Sieger Jan Ullrich («Quäl dich, du Sau!») und Bjarne Riis im Team Telekom, befand damals: «Bei fast 40 Grad im Schatten einen Helm zu tragen – das ist keinem zuzumuten oder sollte wie bisher jedem Fahrer selbst überlassen bleiben.»
Casartellis Tod schob die Debatte wieder an. Zu schlimm waren die Bilder des schwer gestürzten Profis, erst recht im Kontrast zu seinem Olympiasieg 1992: Seinen größten Erfolg feierte Fabio Casartelli mit Helm; die Amateure mussten schließlich immer Helme tragen, für sie griff die Pflicht.
Links der Berg, rechts der Abgrund
Am Ende dauerte es acht weitere Jahre, bis die UCI doch die Helmpflicht für alle Profi-Radrennen einführte. Kurz zuvor hatte ein weiterer Fahrer sein Leben gelassen: Im März 2003 starb Andrej Kiwilew nach einem Sturz bei der Rundfahrt Paris-Nizza an schweren Kopf- und Gesichtsverletzungen. Der 29-jährige Kasache war Mitfavorit für die großen Rundfahrten und zwei Jahre zuvor fast aufs Podium der Tour de France gefahren, und das als Teamkapitän einer französischen Mannschaft. Hätte der Radsport sich schon vorher selbst reformiert, spätestens nach Casartellis Tod — Andrej Kiwilew hätte vielleicht nicht sterben müssen.
Die stets umstrittenene UCI zauderte viel zu lange. Auch beim Doping, das den Radsport jahrzehntelang verseuchte, agierte der Verband undurchsichtig bis manipulativ, schützte sogar druckbetankte Fahrer. Die Helmpflicht setzte er erst nach zwölf Jahren durch.
Auch deshalb bleibt Fabio Casartelli bis heute im kollektiven Radsport-Gedächtnis. Herbert Watterott hat stets den 18. Juli 1995 vor Augen, wenn er Rennfahrer mit 60 oder 80 Stundenkilometern Abfahrten hinunterrasen sieht, links der Berg, rechts der Abgrund. Dirk Baldinger, der sich beim Sturz das Becken brach und im Jahr darauf seine zweite und letzte Tour fuhr, konnte nie wieder an seine früheren Leistungen anknüpfen.
Und einer von Casartellis damaligen Teamkollegen wurde später erst zum größten Gewinner, dann zum größten Dopingsünder aller Zeiten: Drei Tage nach dem tödlichen Sturz gewann der Amerikaner Lance Armstrong die 18. Etappe der Tour 1995 und widmete sie Fabio Casartelli. Seine Zieleinfahrt in Limoges, die Hände und den Blick gen Himmel, im Andenken an seinen Teamkollegen, ist ein Stück Radsportgeschichte.
Source: spiegel.de
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