Sie hat einen Aktenordner voller Drohmails mitgebracht. Es sind zu viele, als dass Martina Renner, Bundestagsabgeordnete der Linken, am Freitag vor der 10. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin jede Frage des Vorsitzenden Richters aus dem Kopf beantworten kann. Allein zwölf Drohungen hat sie von der «Nationalsozialistischen Offensive» erhalten. Weitere Drohmails schickte ihr jemand, der sich mal «NSU 2.0», mal «Wehrmacht», mal «Staatsstreichorchester» nennt.
Wer sich hinter «NSU 2.0″, «Wehrmacht» und «Staatsstreichorchester» verbirgt, ist nicht bekannt. Der mutmaßliche Verfasser der Mails der «Nationalsozialistischen Offensive» hingegen muss sich seit drei Monaten in Berlin vor Gericht verantworten. Martina Renner ist Nebenklägerin im Prozess. Auf der Anklagebank sitzt André M.
Bombendrohungen und Hassmails
Mit Bombendrohungen soll André M. bundesweit Polizeieinsätze und die Evakuierung von Gerichten, Rathäusern und Bahnhöfen ausgelöst haben. Unter dem Namen «Nationalsozialistische Offensive» soll er rechtsextreme Hassmails verschickt und sadistische Gewaltfantasien über Helene Fischer verbreitet haben. Die «Nationalsozialistische Offensive» behauptet von sich in den Mails, eine Gruppe zu sein. Doch vor Gericht ergibt sich ein anderes Bild.
André M., 32, ist ein herzkranker Mann, der bis zu seiner Inhaftierung in Halstenbek in Schleswig-Holstein bei seinen Eltern gelebt hat. Er leidet unter mehreren Phobien, hat das Haus selten verlassen und die Wände seines Zimmers über und über mit NS-Devotionalien behängt.
Er hortet Psychopharmaka, sammelt auf seinem Computer Bilder mit sexualisierten Gewaltdarstellungen, interessiert sich für den Bau von Waffen und die Herstellung von Sprengstoff und bewegt sich mit Vorliebe im Darknet, dem verborgenen Teil des Internets. Schon in seiner Jugend attackiert André M. Mitschüler. Einem Jungen schlägt er einen Stein auf den Kopf, einen anderen malträtiert er mit Stacheldraht. André M. verbrachte bereits mehrere Jahre im Gefängnis und in der forensischen Psychiatrie.
Suizidgedanken per Mail
André M. kommuniziert am liebsten aus der Distanz. Einer Polizistin, die ihn im Herbst 2018 nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie im Auge behalten soll, schreibt er umfangreiche Mails. Er schreibt ihr von seinen Gewalt- und Tötungsfantasien, seinem Menschenhass und seinen Suizidgedanken. Auch einer Internetbekanntschaft schickt er unzählige Text- und Sprachnachrichten über WhatsApp. Ihr gegenüber bezeichnet er sich als Psychopathen, der davon träumt, Amok zu laufen und Bombenanschläge zu verüben. Da André M. die Frau nicht überreden konnte, verschlüsselt zu kommunizieren, sind es nun vor allem diese Nachrichten, die den Richterinnen und Richtern Einblick in seine Psyche gewähren.
Ab Januar 2019 behauptet die «Nationalsozialistische Offensive» mit «NSU 2.0» und «Wehrmacht» zu einem Netzwerk zugehören. In einer Mail vom 12. Januar 2019 an den Organisator eines Schlagerfestivals in Berlin heißt es, die Sängerin Helene Fischer befände «sich auf einer Liste von einer neuen rechtsterroristischen Vereinigung, die aus mehreren kleinen Gruppen besteht, die dem Blood & Honour Netzwerk zuzuordnen sind, darunter Nationalsozialistische Offensive, NSU 2.0 und Wehrmacht». Der Verfasser fordert Helene Fischer auf, keine deutschen Lieder mehr zu singen, andernfalls würden Menschen sterben. Die «Nationalsozialistische Offensive» hat offenbar eine Obsession für die Sängerin.
Der Vorsitzende Richter, Thorsten Braunschweig, fragt Martina Renner, wie häufig Helene Fischer allein in den Drohmails erwähnt wird, die sie erhalten hat. Martina Renner blättert in ihrem Aktenordner, zählt nach und kommt auf 19.
Affäre bei der hessischen Polizei
Richter Braunschweig fragt weiter. Er kommt auf die «NSU 2.0»-Affäre der hessischen Polizei zu sprechen. Er fragt, ob in den Mails, die in diesem Prozess gegen André M. eine Rolle spielen, auch persönliche Daten enthalten sind, bei denen der Verdacht besteht, dass sie über einen Computer der hessischen Polizei abgefragt wurden. Martina Renner verneint es. Doch sie berichtet von anderen «NSU 2.0»-Drohmails, die die Adressen und Handynummern anderer betroffener Frauen enthalten.
Die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz war die Erste, die 2018 Drohungen mit der Unterschrift «NSU 2.0» bekam. Im NSU-Prozess in München vertrat Seda Basay-Yildiz die Familie von Enver Simsek, dem ersten Mordopfer der NSU-Terroristen. Die Drohungen enthielten den öffentlich nicht bekannten Namen ihrer Tochter und ihre Privatadresse. Ermittlungen ergaben, dass die Daten zuvor von einem Polizeicomputer abgerufen worden waren. Später wird bekannt, dass auch Kabarettistin Idil Baydar und die Linke-Politikerinnen Janine Wissler und Anne Helm bedroht wurden. Und auch die Drohungen an Janine Wissler und Idil Baydar sollen Daten enthalten, die von einem Polizeicomputer stammen. Einige dieser Mail bekam auch Martina Renner. Der «NSU 2.0» hatte sie mit in die Empfängerliste gesetzt.
«Ihr bekommt uns nicht klein»
Vor Gericht berichtet Martina Renner, dass sie und die anderen Frauen inzwischen miteinander in Kontakt stehen. Sie sagt, dass sie sich zusammengeschlossen haben, weil sie das Gefühl hätten, sich nicht auf die Sicherheitsbehörden verlassen zu können. Auf Twitter hatte Seda Basay-Yildiz den Zusammenschluss bereits am Donnerstagabend öffentlich gemacht. Die Anwältin veröffentlichte eine Zeichnung, die sie zusammen mit Janine Wissler, Idil Baydar, Anne Helm und Martina Renner zeigt. Über das Bild schreibt Seda Basay-Yildiz: «Grüße an den OberSTRUMPFbandführer — Ihr bekommt uns nicht klein.»
Fraglich ist, ob die «NSU 2.0»-Drohungen mit Bezug zur hessischen Polizei und die Mails von «NSU 2.0» alias «Wehrmacht» alias «Staatsstreichorchester» von demselben Verfasser stammen. Im ersten Fall hat der hessische Innenminister einen Sonderermittler eingesetzt. Im zweiten Fall führt die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren. Auszüge aus den Berliner Ermittlungsakten hat das Gericht auf Antrag der Verteidigung am Freitag an die Prozessbeteiligten verteilt.
Einen weiteren Antrag der Verteidigung hat das Gericht indes abgelehnt. Die Verteidigung hatte beantragt, den Haftbefehl gegen André M. aufzuheben. Die Richterinnen und Richter halten André M. jedoch weiter für dringend tatverdächtig und sehen Fluchtgefahr. Am Freitag verkündete das Gericht, dass der Angeklagte in Untersuchungshaft bleibt.
André M. ist bereits seit April 2019 inhaftiert. Seit er in Untersuchungshaft ist, gibt es keine Drohmails mehr von der «Nationalsozialistischen Offensive». Doch «NSU 2.0» und «Staatsstreichorchester» schreiben weiter.
Source: spiegel.de
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