SPIEGEL: Herr Liesemer, nun werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger. Das dürfte Sie, den Nachtwanderer, freuen, oder?
Dirk Liesemer: Ach, ich mag auch die kurzen Nächte und genieße sie. Auch im Sommer hat man vier bis fünf Stunden, die man in ziemlicher Dunkelheit draußen verbringen kann. Und im Wald ist es wegen des Laubs an den Bäumen dann auch wirklich stockdunkel.
SPIEGEL: Vor allem ist es nicht so kalt.
Liesemer: Dafür sind kalte Nächte klarer, da kann man besser die Sterne beobachten. Im Sommer steigt die warme Luft von den Wiesen und Felsen auf, das verursacht Verwirbelungen in der Luft.
SPIEGEL: Sie sind auf mehr als 50 Wanderungen nachts durch Deutschland, Österreich, die Schweiz gezogen. Wieso eigentlich?
Liesemer: Vor einigen Jahren, als ich in Leipzig lebte, bin ich nachts durch die Vororte gelaufen, es war wirklich extrem dunkel. Dabei erinnerte ich mich an die Nachtwanderungen meiner Kindheit. Und mir wurde bewusst, dass ich viele Geräusche um mich herum gar nicht deuten konnte, die Sternbilder nicht mehr kannte. Es war eine Welt, die ich wieder entdecken wollte.
SPIEGEL: Klingt wie die Suche nach einem Abenteuer. Ist uns die Nacht denn wirklich so unbekannt?
Liesemer: Die Nacht findet für viele nur noch in Städten statt: in Cocktailbars oder Diskotheken — nicht in der Natur unter den Sternen. Man muss die Nacht auch nicht gleich als Terra incognita bezeichnen. Aber sie ist uns fremd und unheimlich geworden. Das ging mir auch so, obwohl ich auf dem Dorf aufgewachsen bin.
Foto: Dirk Liesemer
SPIEGEL: Wie waren Ihre ersten Nachtwanderungen?
Liesemer: Ich fühlte mich wie ein Analphabet. Weil ich nicht wusste, wie man sich orientiert, welche Geräusche was bedeuten. Ich dachte: Da ist ein Dachs oder Fuchs neben mir im Gebüsch. Dabei war es nur ein Frosch, ein Salamander, eine Maus. Die Geräusche sind oft so laut, dass man sich etwas Größeres und Gefährlicheres vorstellt. Wegen der anhaltenden Dürre ist alles viel trockener, es gibt mehr Laub — deswegen rascheln heute auch die Nächte lauter als noch vor ein paar Jahren. Einmal grunzte es plötzlich neben mir — ein Wildschwein. Das war eines der paar Male, als ich mich wirklich erschrocken habe.
SPIEGEL: Und dann?
Liesemer: Selbst Keiler greifen nicht ohne Not an. Und man bemerkt Wildschweine: Sie riechen penetrant nach Liebstöckel, also nach Maggi. Der liegt auch dann noch in der Luft, wenn sie schon wieder weitergezogen sind. Hört man ein leichtes Pusten oder Quieken oder Grunzen, sind sie in der Nähe.
SPIEGEL: Was raten Sie in so einer Situation?
Liesemer: Stehen bleiben. Möglichst langsam zurückbewegen, auf keinen Fall davonlaufen. Man sollte diese Tiere nicht herausfordern und schon gar nicht in eine Ecke treiben. Aber richtig Furcht hatte ich nachts sowieso nie.
SPIEGEL: Frauen erleben solche Nachtexkursionen anders.
Liesemer: Das kann ich mir schon vorstellen. Männer haben da insgesamt weniger Ängste.
SPIEGEL: Das ist eine privilegierte Position: Männer müssen nachts allein unterwegs weniger Ängste haben.
Liesemer: Ich habe nachts keine Bedrohung erlebt. Es ist fast niemand unterwegs. Auf den 50 Wanderungen lief ich einmal einer Jägerin über den Weg, in meinem Heimatdorf noch jemandem, einmal einer Gruppe. Mehr nicht. Die Nacht ist eher harmlos.
SPIEGEL: Inwiefern?
Liesemer: Alles ist reduziert: Es gibt keine Farben, man erkennt keine Formen, es sind eigentlich keine Menschen unterwegs. So wird man auf sich selbst zurückgeworfen. Damit bekommt die Nacht eher etwas Meditatives. Die Angst fällt von einem ab, man ist so sehr bei sich. Ich hatte sogar vorher Pfefferspray gekauft, wegen der Wildschweine oder Wölfe. Auf einer einzigen Wanderung hatte ich es dabei, aber es war so tief im Rucksack, da wäre ich im Notfall sowieso nicht rangekommen. Beim nächsten Mal habe ich es im Schrank gelassen.
SPIEGEL: Was gehört zu Ihrer Ausrüstung?
Liesemer: Ein Rucksack, eine Kamera, ein Stativ für die Fotos. Bisschen was zu essen und zu trinken. Und eine Stirnlampe für Notfälle. Die habe ich in der Regel gar nicht verwendet. Weil dann alles, was neben dem Lichtkegel liegt, finster ist. Deswegen habe ich mich mit Taschenlampe mehr gefürchtet als ohne. Und ich hatte noch ein Aufnahmegerät dabei, um nachts Notizen machen zu können. Man sieht ja nichts.
SPIEGEL: Und was haben Sie an?
Liesemer: Wenn ich Tiere beobachten will, ist dunkle Kleidung gut, dazu trage ich Handschuhe und Mütze. Helle Flecken wie meine Haut erkennen Tiere sofort. Darum sind meine taubengraue Funktionsjacke und -hose auch nicht unbedingt eine gute Wahl: Funktionskleidung raschelt sehr laut, damit ist man permanent zu hören.
SPIEGEL: Wer die Nachtwanderei mal ausprobieren möchte: Wo lohnt es sich anzufangen?
Liesemer: Am besten im eigenen Umfeld, wo man die Wege kennt. Für weitere Wanderungen dann vielleicht in einer Region, die sich von der heimischen unterscheidet. Aber auch viele Städte leuchten sehr weit. Auch deswegen mag ich es, auf Amrum nachts zu wandern.
SPIEGEL: Was ist auf der Nordseeinsel anders?
Liesemer: Es ist sehr dunkel dort. Man sieht über sich die Milchstraße. Es gibt nur wenige Regionen in Deutschland, wo es so dunkel ist, etwa im Havelland, einzelne Regionen in Mecklenburg, Teile der Alpen — und eben auf Amrum. Am Strand muss man auch nicht ständig auf seine Schritte achten, die Naturerfahrung ist elementarer: nur Land, Wasser, Himmel. Am besten erlebt man die Nacht zwischen zwei und drei Uhr. Da ist man schon ein paar Stunden unterwegs, hat sich daran gewöhnt, sich zu orientieren, erschrickt nicht mehr — und ist noch nicht total erschöpft.
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SPIEGEL: William Turner, Carl Spitzweg — viele wichtige Maler haben die Nacht in Bildern verewigt. Wie hat sich unser Bild von der Nacht gewandelt?
Liesemer: In der Kulturgeschichte der Nacht war sie immer etwas sehr Romantisches. Aber in der modernen Kunst ist Natur nicht mehr das Hauptsujet. Allerdings gibt es in der Fotografie eine neue Entwicklung: Die digitalen Kameras haben die Nachtfotografie verändert.
SPIEGEL: Haben Sie auf Ihren Fotos die Nacht noch mal anders entdeckt?
Liesemer: Auf Amrum hatte ich die Nacht als sehr dunkel erlebt, konnte nur einen Holzweg und den Horizont ausmachen. Die Kamera brachte aber leichte Violetttöne der Heide und Sandtöne hervor. Im Grunde bilden die Fotos eine Realität ab, die ich selbst gar nicht sehen konnte.
SPIEGEL: Wie hat sich Ihr Verhältnis zur Nacht inzwischen verändert?
Liesemer: Wenn ich über etwas nachdenken will, mache ich das nun immer in der Dämmerung. Die Nacht strahlt eine große Ruhe aus. Im Moment gibt es sowieso Gründe genug, nachts draußen zu sein: Die Glühwürmchen sind unterwegs — und bald kommen die Perseiden.
Source: spiegel.de
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