SPIEGEL: Herr Schlag, wann waren Sie im Straßenverkehr zuletzt richtig wütend?
Bernhard Schlag: Als ich als Fußgänger fast überfahren wurde. Ich wollte eine Straße überqueren und bin nach einem — zugegeben flüchtigen — Blick auf die Fahrbahn getreten. Ansonsten hätte ich gesehen, dass das anfahrende Auto sehr schnell unterwegs war. Der Fahrer hat die Geschwindigkeit gehalten, obwohl er auch durchaus hätte langsamer werden können. So musste ich zur Seite springen.
SPIEGEL: Wenn ich in so eine Situation komme, wie gehe ich damit um?
Schlag: Indem Sie das Verhalten des anderen nicht persönlich nehmen, so ist es nämlich oft nicht gemeint. Wir unterscheiden zwischen affektiver und instrumenteller Aggression. Die erste zielt auf bewusste Schädigung einer anderen Person ab. Die zweite darauf, eigene Ziele umzusetzen. Andere Verkehrsteilnehmer zu schädigen, wird dabei in Kauf genommen. Im Straßenverkehr erleben wir meistens instrumentelle Aggression. Man ist beispielsweise für den nächsten Termin spät dran und bedrängt jemanden, um gerade noch die Ampel mitzunehmen.
SPIEGEL: Das erlebe ich als Radfahrerin anders: Da werde ich behindert und habe das Gefühl, dass das gezielt in meine Richtung geht.
Schlag: Das ist ja die Krux: Wie wir die Verhaltenshintergründe bei Anderen erleben, das stimmt nicht unbedingt mit deren Intentionen überein. Aber es hat üble Konsequenzen, wenn man dem Anderen zu häufig Absicht unterstellt.
SPIEGEL: Was hilft, um mich wieder runterzuholen?
Schlag: Dann können Sie versuchen, anders aus der eigenen Emotion herauszukommen — indem Sie etwa einen Schritt zurückgehen und sich sagen: Der Andere macht genauso Fehler wie ich. In dem Moment nehme ich die Rolle des Überlegenen ein und die gefällt einem in der Regel sehr gut. Wenn Sie Straßenverkehr als Kampf verstehen, sind Sie auf der falschen Fährte.
SPIEGEL: Laut einer Studie der American Automobile Foundation versteht man unter aggressivem Verhalten im Straßenverkehr dichtes Auffahren, aggressive Gesten, absichtliches Behindern, verbales Beschimpfen oder sogar den körperlichen Angriff. Wenn ich dazu neige, was tue ich?
Schlag: Gehen wir einmal nicht davon aus, dass eine antisoziale Persönlichkeitsstörung vorliegt, die sich auch im Fahrverhalten äußern würde, etwa durch wiederholte Raserei und Trunkenheit am Steuer. Dann hilft es, sich Gedanken darüber zu machen, ob man andere belastende Lebenssituationen mit ans Steuer nimmt. Das ist nicht unüblich und Erregung ist potenzierbar. Das heißt, dass wir dann mit vielleicht völlig unangemessener Aggression auf etwas reagieren, was uns eigentlich kaltlassen würde. An diesen Problemen müssen wir dann arbeiten.
SPIEGEL: Aggressivität im Straßenverkehr wird laut Umfragen als immer größeres Problem wahrgenommen. Deckt sich das mit der Realität?
Schlag: Unfallursachen, bei denen Aggressivität eine Rolle spielt, haben nicht zugenommen. Auch im Punkteregister in Flensburg spiegelt sich eine Zunahme solcher Delikte nicht wider. Ich gehe von einer anderen Ursache für dieses Gefühl aus: Auf dem gleichen Verkehrsraum wie vor zehn oder 20 Jahren ist heute deutlich mehr los, das stresst die Menschen.
«Wenn Sie Straßenverkehr als Kampf verstehen, sind Sie auf der falschen Fährte»
SPIEGEL: Warum sollte das allein dazu führen, dass das Geschehen als aggressiver wahrgenommen wird?
Schlag: Der Straßenverkehr ist ein schnelles und komplexes System. Mit der Geschwindigkeit steigen Unfallwahrscheinlichkeit und Unfallschwere, weil das System wenig resilient ist. Fehler können nicht gut ausgeglichen werden. Geschwindigkeit ist also die zentrale Stellgröße. Das ist auch der Grund, warum weltweit viele Menschen nicht glauben können, dass in Deutschland auf 70 Prozent der Autobahnen so schnell gefahren werden darf, wie man will oder wie es die Verkehrslage zulässt. Wenn wir über Aggression sprechen, müssen wir aber nicht nur hohe Geschwindigkeit, sondern vor allem große Geschwindigkeitsunterschiede betrachten.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Schlag: Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger sind unterschiedlich schnell und das ist überall dort ein Problem, wo sie aufeinandertreffen.
SPIEGEL: Das gehört doch zum Wesen des Verkehrsgeschehens. Was wollen Sie dagegen machen?
Schlag: Den Ärger aus dem System nehmen, indem man den Verkehr gleichmäßiger fließen lässt. Mein Ansatz wäre, etwas an den Geschwindigkeiten zu machen.
SPIEGEL: Also flächendeckend Tempo 30 innerorts?
Schlag: Das wird bereits in vielen Städten diskutiert. Vor allem dort, wo Auto- und Radfahrer sich die Fahrbahn teilen, gibt es weniger Konfliktpotenzial — wenn sich alle den langsameren Verkehrsteilnehmern anpassen und deren Möglichkeiten die Lage bestimmen. Etwa Radfahrer. Ein frühes Beispiel ist die Gestaltung von Wohngegenden in den Niederlanden: In diesen «Woonerfs» sollte sich der Autofahrer als Gast fühlen. Davon können wir viel lernen. Eine Alternative ist die Separation: Autos und Radfahrer nutzen dann konsequent voneinander getrennte Wege.
«Wir müssen den Ärger aus dem System nehmen»
SPIEGEL: Das geht aber nur, wenn ausreichend Platz vorhanden ist. Oder wenn man den stärkeren Verkehrsteilnehmern Platz wegnimmt. Wie schafft man es, dass Autofahrer gelassen reagieren, wenn man ihnen langsam die Fläche stiehlt?
Schlag: Natürlich benötigt man dafür Platz. Deshalb wird aktuell in vielen Städten eine Neuaufteilung des Verkehrsraums verhandelt. Eine gute bauliche Gestaltung und klare Regeln helfen, Konflikte zu mindern.
SPIEGEL: Infrastruktur kann deeskalierend wirken, wenn man sie richtig einsetzt. Was kann man tun?
Schlag: Kreisverkehre etwa nehmen Geschwindigkeit aus dem System und entschärfen konflikthaltige Situationen, wenn sich Straßen kreuzen. Es passieren nicht unbedingt weniger Unfälle, aber weniger schwere. Insgesamt ist es aber auch ratsam, nicht nur das Konfliktpotenzial der Umgebung zu betrachten, sondern auch zu hinterfragen, welche Rolle das Automobil selbst spielt. Neue Fahrzeuge geben einem kaum Rückmeldung über zu schnelles Fahren. Wenn Sie früher mal in einer «Ente» saßen, dann wissen Sie, dass die bei Tempo 80 ganz schön ruckelt. Das haben sie heute bei guten Fahrzeugen nicht mal bei Tempo 160.
SPIEGEL: Generell kann man also sagen, dass großer Komfort uns dazu verführt, unsicheres Verhalten im Straßenverkehr an den Tag zu legen. Sollten wir es uns wieder unbequemer machen?
Schlag: Eine Umgebung, die Ihnen als Fahrer keine Rückmeldung darüber gibt, ob Sie korrekt oder falsch handeln, ist eine verhexte Umgebung. So lerne ich nicht und verhalte mich wieder falsch. Das gilt auch für Fahrerassistenzsysteme wie ACC oder ABS. Bei den meisten bleibt die Rückmeldung von Fehlverhalten einfach aus. Man muss die Leute ja nicht in eine Gefahrensituation rasen lassen, aber man muss ihnen eine unangenehme Rückmeldung geben, damit sie künftig diese Fehler vermeiden. Gerade bei jungen Fahrern ist das total wichtig.
SPIEGEL: Also gelten beim Autofahren und in der Liebe die gleichen Regeln: Wenn man sich keine ehrliche Rückmeldung gibt, kann man sich nicht positiv entwickeln.
Schlag: So ist es, das Fahrzeug ist dann ein unehrlicher Partner.
Source: spiegel.de
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