1. Immun gegen Kritik
In Hongkong macht die pekingtreue Regierungschefin, wovon Donald Trump nur twittern kann: Die Wahl verschieben. Eigentlich sollten die Bürger der chinesischen Sonderverwaltungszone ihr Regionalparlament im September neu wählen, jetzt dauert es wohl noch ein Jahr, genauer Termin unklar. Als Grund werden steigende Corona-Zahlen genannt. Schlüssiger wirkt, dass die Machthaber ihre Abwehrkräfte gegen die Demokratie stärken wollen.
Der US-Präsident wiederum gilt als weitgehend immun gegen Kritik. Viel ist geschrieben worden über die möglichen Ursachen; viel gelesen habe ich auch über das Buch seiner Nichte Mary L. Trump (Trump-Enthüllungsbücher sind ja mittlerweile ein eigenes Genre). Aber mein Kollege Marc Pitzke hat jetzt mit ihr gesprochen, fast 90 Minuten lang, per Videochat. Sie sagt Sätze wie diese:
«Das Zusammenspiel seiner Pathologien und seiner Macht ist äußerst gefährlich. Jeder Mann oder jede Frau in dieser Position ist potenziell gefährlich. Aber mein Onkel hat eindeutig nicht die intellektuelle Kapazität oder die Impulskontrolle, als dass man ihm vertrauen könnte.»
Die promovierte Psychologin Trump, 55, kennt den Präsidenten seit ihrer Kindheit, Ihr Vater «Fred» Trump Jr., Donald Trumps älterer Bruder, starb 1981. Marc sagt: «Sie war anfangs sehr ernst, doch sie taute dann auf, war sehr gesprächig und zugänglich. Vieles aus ihrer Familiengeschichte scheint ihr bis heute nachzuhängen.» Mary Trump saß in Long Island, Marc ein paar Kilometer entfernt in Brooklyn. «Ihre Adresse hält sie aus Sicherheitsgründen geheim.»
2. Übertragende Leistung
Den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach nennt mein Schwiegervater «den mit der nervigen Stimme», wenn er ihn im Fernsehen reden hört. Deutschlands bekanntester Virologe Christian Drosten sagt über den Politiker: «Der kennt sich aus. Da ist es erst mal egal, ob irgendjemand findet, dass der zu viel in Talkshows sitzt.» Wahrscheinlich haben beide recht.
Jetzt hat mein Kollege Markus Feldenkirchen aus unserem Hauptstadtbüro mit Lauterbach gesprochen — und einige Sätze klingen alarmierend (und zwar nicht wegen der Stimme):
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«Jetzt befinden wir uns am Anfang der zweiten Welle.»
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«Wir müssen davon ausgehen, dass die Disziplin in der Bevölkerung, Abstand zu halten oder Masken zu tragen, geringer als bei der ersten Welle sein wird.»
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«Wir hecheln der Pandemie erfolglos hinterher.»
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«Was wir bislang machen, ist reinste Ressourcenverschwendung.»
Lauterbach, selbst ausgebildeter Epidemiologe, fordert einen radikalen Strategiewechsel: Die Gesundheitsämter müssten einen anderen Auftrag bekommen. «Statt jedem Einzelkontakt nachzutelefonieren, sollten sich die Ämter allein auf die sogenannten Superspreader konzentrieren.» Also auf die wenigen hochansteckenden Infizierten, von denen das Virus bei Partys oder Versammlungen auf Dutzende andere überspringt.
Sein Vorschlag: Bei jedem Corona-Test systematisch abfragen, ob der Getestete in den Tagen zuvor bei einem potenziellen Superspreader-Event war. «Sollte der Test positiv ausfallen, müssen alle anderen Teilnehmer sofort in Quarantäne geschickt werden, unverzüglich, noch bevor sie selbst getestet wurden.» Japan mache das erfolgreich so. Die gute Nachricht: Eine Woche Quarantäne reicht offenbar.
3. Kindesmissbrauch in NRW: Tausende Taten
Seit anderthalb Jahren berichtet mein Kollege Lukas Eberle, Korrespondent in Düsseldorf, über Kindesmissbrauch in Nordrhein-Westfalen, über Dutzende Opfer, über Tausende Taten, die, ohne dass Polizei oder Jugendämter es mitbekamen, über Jahre verübt werden konnten. Der erste Tatort war ein Campingplatz in Lügde, es folgten Bergisch Gladbach und dann Münster, wo mehrere Männer, die wohl Teil eines Kinderpornorings waren, ihre Opfer in einer Gartenlaube missbraucht haben sollen.
Ich gebe zu, mir fiel es schwer, den aktuellen Text von Lukas zu lesen. Darin geht es um Jörg L., 43, aus Bergisch Gladbach, der seine Tochter missbraucht haben soll, sie war erst drei Monate alt. Einem Chatpartner soll L. sie später zum Geschlechtsverkehr angeboten haben. Er ist der Hauptverdächtige des pädokriminellen Netzwerks, bald steht er vor Gericht: Der Prozess beginnt am 10. August.
85 weitere Verdächtige wurden bislang allein in Nordrhein-Westfalen von der Polizei ausfindig gemacht. Lukas recherchierte die Hintergründe des Falls, sprach unter anderem mit den Ermittlern, die sich durch die sichergestellten Fotos und Videos quälen müssen.
Eine Frage beschäftigte Lukas zu Beginn besonders: Warum gibt es gerade in Nordrhein-Westfalen so viele Fälle? Warum ist es gerade hier so schlimm? Mittlerweile kennt er die Antwort: «Es passieren hier vermutlich nicht mehr Taten als anderswo. Es kommen aber mehr ans Licht, weil der Druck auf Politik und Behörden gewachsen ist – und alle genauer hinsehen müssen.»
Die Ermittler gehen zurzeit von rund 30.000 potenziellen Tatverdächtigen im Zusammenhang mit dem Fall aus. Dingfest machen können sie wohl höchstens drei Prozent. Das sagt der Kölner Oberstaatsanwalt Markus Hartmann, Leiter der NRW-Zentralstelle Cybercrime: «Angesichts der zahlreichen technischen und rechtlichen Hemmnisse wäre es ein Erfolg, wenn wir am Ende eine dreistellige Zahl von Personen hätten, die wir als Tatverdächtige identifizieren und strafrechtlich verfolgen können.»
Was heute sonst noch wichtig ist
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Mein Lieblingsinterview heute: Der nächste Weltmeister von 2014 verabschiedet sich
Am Mittwochmorgen wartete mein Kollege Udo Ludwig aus dem Sportressort am Bahnhof von Haltern am See auf Benedikt Höwedes, 32, den Fußballweltmeister von 2014. Sie hatten sich verabredet, um über seinen Rücktritt vom Profisport zu sprechen (nachdem vergangene Woche schon André Schürrle bei uns seinen überraschenden Rückzug verkündet hatte). «Ich hatte erwartet, dass er in einem schicken Auto kommt, vielleicht einem SUV», sagt Udo. Doch dann radelte ein Mann in kurzen Hosen auf ihn zu, an der Hand hatte er ein zweites Fahrrad. «Guten Tag», sagte er, «was dagegen, wenn wir mit dem Fahrrad an den See fahren?» Es war Höwedes.
Der Kommerzfußball mit seinen Milliardenumsätzen hat viele Stars hervorgebracht: teure Uhren, protzige Autos, Brillis in den Ohren gehören zu den Statussymbolen. Udo sagt: «Auch Höwedes hat Millionen verdient, aber er ist am Boden geblieben.» Er kehrt zurück in seine Heimat, nach Haltern am See. Klagen über die Auswüchse des Fußballs gibt es viele, gerade jetzt in der Pandemie. Auch Höwedes sagt: «Der Fußball hat sich brutal entwickelt. Und dabei distanziert von den normalen Fans.»
Auf der Liste meiner Interessen steht Fußball zwar nicht ganz oben, aber beim Lesen dieses Gesprächs spürt man, wie genervt Höwedes von der Branche ist. «Man nimmt ihm die Sätze ab», sagt Udo. Höwedes hat neue berufliche Pläne und möchte in Zukunft dazu beitragen, dass der Fußball wieder authentischer wird, geerdet.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Was heute nicht so wichtig ist
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Zusammennachspiel: Jennifer Aniston, 51, nicht nur als Rachel aus «Friends» bekannte Schauspielerin, hat Lisa Kudrow, 57, eigentlich nur als Phoebe aus «Friends» bekannte Schauspielerin, zum Geburtstag gratuliert. Sie widmete ihr eine liebevolle Instagram-Story mit merkwürdigen Kosenamen: «Happy Birthday, mein süßester Floosh.»
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: «Die Inflation zog im Juli ausgehend von einem niedrigen Niveau stark an — und viel deutlich stärker aus als erwartet.»
Cartoon des Tages: Deutsche Wirtschaft im Coronafieber
Und am Wochenende?
In der Corona-Politik scheint Deutschland «söderal» organisiert zu sein, vielleicht sollten wir auch in der Freizeitgestaltung vom Süden lernen: Wenn Sie wissen wollen, wie bayerische Gemütlichkeit schmeckt, dann probieren Sie das Rezept unserer Köchin Verena Lugert für Münchner Schnitzel. (Pro-Tipp meiner Lieblingskollegin: Suchen Sie sich zum Essen einen Platz, der einem Biergarten möglichst nahe kommt.)
In diesem Sinne: Lassen Sie uns auf Fleisch klopfen.
Ihnen ein schönes Wochenende.
Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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Source: spiegel.de
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