пятница, 6 марта 2020 г.

Rassismus: Menschen, um die wir trauern

Am 20. Februar erschoss ein Rechtsradikaler neun Menschen in Hanau: Gökhan Gültekin, Ferhat Ünvar, Hamza Kurtovi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Welkow, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoglu, Said Nessar El Hashemi und zuletzt seine eigene Mutter. Zwei Tage später auf einer Kundgebung in Hanau sagte Abdullah Ünvar, Cousin des ermordeten Ferhat Ünvar: «Die Opfer waren unsere Kinder, Brüder, Schwestern, Väter, Mütter. Vor allem waren sie alle Kinder dieses Landes.»

Seine Forderung, sie als der Gesellschaft zugehörig anzuerkennen, verhandelt nicht weniger als die Frage von Menschlichkeit. Und die wiederum führt zu der Frage, die die Philosophin Judith Butler aufwirft: Welche Leben sind betrauerbar? Welche Leben werden als der Gesellschaft zugehörig anerkannt? Welche Leben gelten als wertvoll genug, um sie öffentlich zu betrauern? Welches Leben wird als Teil der eigenen sozialen Wirklichkeit angesehen und welches Leben gilt als fremdartig und weniger des Trauerns wert?

Rassismus: Jule Govrin ist Philosophin, ihre Forschung situiert sich an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik. Sie ist Autorin von "Sex, Gott und Kapital. Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken" (2016) und neben ihrer akademischen Arbeit journalistisch tätig, z.B. als Gastautorin bei "10 nach 8".

Jule Govrin ist Philosophin, ihre Forschung situiert sich an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik. Sie ist Autorin von «Sex, Gott und Kapital. Houellebecqs ‘Unterwerfung’ zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken» (2016) und neben ihrer akademischen Arbeit journalistisch tätig, zum Beispiel als Gastautorin bei «10 nach 8». © Katrin Krämer

Von 2000 bis 2007 ermordete der NSU neun Menschen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kiliç, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Den Opfern des NSU verweigerte man über Jahre die Anerkennung, indem man ihr Leben als fremd und weniger betrauernswert herabsetzte. Die Behörden ermittelten in ihrem Umfeld wie im Fall von Mehmet Kubaşık, dem sie posthum Drogen-, Mafia- und PKK-Kontakte unterstellten. Einige Medien bezeichneten die Anschläge jahrelang als «Dönermorde». Die Politik ignorierte die betroffenen Communitys, die beständig darauf hinwiesen, dass es sich um eine rechtsextreme Mordserie handelte. Danach der NSU-Prozess: Die Bitten der Angehörigen um Aufklärung bleiben überhört, bei der Urteilsverkündung applaudierten Nazis im Publikum.

Dass es inzwischen ein stärkeres Bewusstsein für Rassismus gibt, ist auch eine Folge der unerlässlichen Bemühungen der Angehörigen wie Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek, ihrer Anwält*innen wie Seda Basay-Yildiz sowie Initiativen wie des NSU-Tribunals. Ihnen wird der Raum zum Sprechen nicht einfach gewährt. Die Angehörigen der Opfer des NSU mussten jahrelang dafür kämpfen, gehört und gesehen zu werden. Allerdings mangelte es bisher an praktischer politischer Unterstützung. In der Erinnerungspolitik der BRD bleibt alles beim Alten, hält der Migrationsexperte Massimo Perinelli und beschreibt, wie dem Vater von Ferhat verweigert wurde, während der offiziellen Kundgebung auf der Bühne neben Bürgermeister, Landespräsident, Ministerpräsident öffentlich seinen Sohn zu betrauern.

Fremdmachen des Lebens, Fremdmachen des Leidens

In solchen verletzenden Anerkennungsverweigerungen versperrt sich die Politik einer Erkenntnis, die längst selbstverständlich sein sollte: Dass Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, Mitglieder dieser Gesellschaft sind. Dass diese Gesellschaft seit Langem eine postmigrantische Gesellschaft ist. Dass Rassismus kein Minderheitenproblem ist, sondern ein Viertel aller Menschen in dieser Gesellschaft bedroht und eben diese Gesellschaft zutiefst spaltet. Zwar scheuen sich Regierungsmitglieder nicht mehr, das Wort Rassismus zu verwenden – wie Angela Merkel, die nach dem Attentat sagte, dass Rassismus Gift sei, dass in dieser Gesellschaft existiere. Doch so wichtig solch eine öffentliche Anerkennung des Problems ist, sie sollte von praktischen Gesten der Anerkennung begleitet werden. Warum war Angela Merkel direkt nach der Tat nicht in Hanau, fragte Mely Kiyak in ihrer Kolumne auf ZEIT ONLINE: «Die Abwesenheit der Regierung degradiert die Trauer der Hinterbliebenen zu privatem Leid. Zu fremdem Leid. Zu einsamem Leid.»

Das Fremdmachen des Leidens, das Fremdmachen derjenigen, die gestorben sind, zeigt sich im Mangel an Taten, der von warmen Worten übertüncht werden soll. Es zeigt sich in Worten, die die Gewalt der Taten unsichtbar machen, wie im Begriff der Fremdenfeindlichkeit, der Menschen in der Gesellschaft, in der sie leben, zu Fremden macht. Das Fremdmachen zeigt sich in stigmatisierenden Bezeichnungen wie früher «Dönermorde» oder jetzt «Shishamorde», wie Boulevardmedien kurz nach dem Attentat in Hanau titelten. Die Frage nach der Betrauerbarkeit äußert sich ebenso in Berichten über die Ermordeten, in denen man betont, dass alle sich in Arbeitsverhältnissen oder Ausbildungen befänden – als müsse man rechtfertigen, sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen. Als müsse man sie vom Vorurteil des organisierten Verbrechens befreien und beweisen, dass sie tatsächliche Opfer und nicht potenzielle Täter sind.

Symbolische Anerkennung und politische Praxis

Der Gesten und Worte gibt es gegenwärtig viele. Die SPD-Politikerin Amina Yousaf merkt hierzu an: «Ich möchte nicht mehr, dass ‘Zeichen gesetzt’ werden, ich will, dass endlich gehandelt wird. Eine Menschenkette gegen rechts wird uns, die wir von anderen als fremd bezeichnet werden, (…) nicht schützen.» Es geht nicht um die Sonderbehandlung einiger weniger, sondern um den staatlichen Schutz eines Viertels der Gesellschaft. Es liegen konkrete Vorschläge zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus vor. Die Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen legt in einem offenen Brief ein von Forschern und Verfassungsschützern erstelltes Programm gegen Rechtsextremismus vor. Zudem fordern sie, was selbstverständlich sein sollte: politische Teilhabe. Schließlich repräsentiert in der Regierung niemand die 23,6 Prozent, die von rassistischer Gewalt bedroht sind.

Horst Seehofer, der flink Merkels Rede vom Rassismus als Gift aufnahm, antwortete auf die Forderung nach einem Antirassismusbeauftragten, dies sei er selbst. Welch ein Hohn, solch eine Antwort von einem Politiker, der Migration als «Mutter aller Probleme» bezeichnete, der Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer verhinderte und damit die Leben derjenigen, die dort ertrinken, zu unbetrauerbaren Leben macht. Diejenigen, die die Überfahrt schaffen, sind derzeit nackter Gewalt durch rechte Schlägertrupps auf den griechischen Inseln ausgesetzt, während der Bundestag die Aufnahme von 5.000 Geflüchteten, vor allem von Kindern, Schwangeren, alleinstehenden Frauen oder stark Traumatisierten ablehnte. Während Seehofer seine Teilnahme am Integrationsgipfel absagte und stattdessen Sebastian Kurz – ebenfalls Verfechter der «Festung Europas» – traf, wählte Merkel dort erneut klare Worte und stellte die Grundsatzfrage, wie lange sich Menschen fragen lassen müssen, ob sie «integriert» seien. Sie kündigte ferner einen Kabinettsausschuss an, der sich mit dem Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus befassen soll. Indessen stimmte der Landtag in Sachsen-Anhalt dafür, Antirassismus als Staatsziel in die Verfassung aufzunehmen. Erste Schritte von vielen, um Gesten der symbolischen Anerkennung in politische Praxis zu übersetzen.

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