Im EU-Haushaltsstreit hat Ratspräsident Charles Michel die Erwartungen gedämpft. Wenige Stunden vor einem Sondergipfel in Brüssel sprach er an diesem Donnerstag nur noch von der Hoffnung auf Fortschritte «in den nächsten Stunden oder Tagen». Tatsächlich schienen die Positionen der EU-Staaten völlig festgefahren.
Michel appellierte an die Staats- und Regierungschefs: «Es liegt alles auf dem Tisch, um eine Entscheidung zu treffen.»
Es geht um den EU-Haushaltsplan für die sieben Jahre von 2021 bis 2027 im Umfang von rund einer Billion Euro. Von den Geldern profitieren Millionen Landwirte, Kommunen, Unternehmen, Studenten und andere Bürger, auch in Deutschland. Umstritten ist, wie viel überhaupt auf europäischer Ebene ausgegeben werden soll und wofür, wer wie viel einzahlt und ob die EU eigene Einnahmequellen bekommen soll.
Schon Stunden vor dem Treffen lotete Michel in Einzelgesprächen mögliche Kompromisslinien mit Gipfelteilnehmern aus, darunter der schwedische Regierungschef Stefan Löfven und der Ungar Viktor Orban. Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde für den Nachmittag erwartet.
Eine Lösung ist diesmal aus zwei Gründen besonders schwierig: Nach dem EU-Austritt des Nettozahlers Großbritannien fehlen pro Jahr rund zehn Milliarden Euro in der Gemeinschaftskasse. Gleichzeitig sollen mehr Aufgaben finanziert werden, vor allem Klimaschutz, Grenzschutz, gemeinsame Verteidigung, Forschung und Digitalisierung. Deutschland ist größter Nettozahler und trägt etwa ein Fünftel des Haushalts, hat aber auch wirtschaftlich mit den größten Nutzen von der EU.
Konkret wird nun um Zehntelprozentpunkte gestritten. Ratspräsident Michel hatte vorgeschlagen, 1,074 Prozent der Wirtschaftsleistung ins EU-Budget einzuzahlen. Deutschland und andere Nettozahler wie Dänemark, Schweden, Österreich und die Niederlande wollen aber einen Deckel bei 1,0 Prozent. EU-Länder im Osten und Süden, die auf Agrar- und Strukturhilfen angewiesen sind, wollen indes höhere Ausgaben. Am weitesten geht das Europaparlament, das 1,3 Prozent der Wirtschaftsleistung für den EU-Haushalt fordert. Das Parlament hat Einfluss, denn es muss den Haushaltsplan am Ende billigen.
Der Grünen-Europapolitiker Rasmus Andresen warnte vor einem Verfehlen der EU-Klimaschutzziele. «Der Plan von Charles Michel wird dem Green Deal nicht gerecht», sagte Andresen der Deutschen Presse-Agentur. «Wir brauchen mehr öffentliche Investitionen in klimagerechte Infrastruktur und für sozialen Ausgleich.» Auch Parlamentsvizepräsidentin Nicola Beer (FDP) nannte Michels Vorschlag «auf der ganzen Linie enttäuschend». Das Parlament erwarte mehr für Außen- und Verteidigungspolitik, Technologie und Klimaschutz.
Der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier forderte, die Auszahlung von EU-Mitteln klar an die Einhaltung gemeinsamer Werte wie Rechtsstaatlichkeit zu koppeln. Das müsse Bundeskanzlerin Merkel durchsetzen, sagte Geier der Deutschen Presse-Agentur. Eine solche Koppelung soll mit dem Finanzrahmen erstmals eingeführt werden, doch sind die Details umstritten. Sie könnte zu Lasten von Staaten wie Polen oder Ungarn gehen, die viele EU-Gelder bekommen, aber mit Brüssel im Dauerstreit über die Unabhängigkeit der Justiz liegen.
EU-Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova warnte: «Wir müssen sicherstellen, dass EU-Geld nicht auf der Ebene der Mitgliedsstaaten zu schmutzigem Geld wird.» Sie kritisierte, Michels Vorschlag habe ursprüngliche Ideen der Kommission verwässert.
Obwohl es um Riesensummen geht, ist der Gemeinschaftshaushalt für die rund 450 Millionen EU-Bürger weniger als halb so groß als der Bundeshaushalt von derzeit 362 Milliarden Euro: Pro Jahr sind es nach dem jetzigen Ansatz etwa 145 Milliarden Euro.
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