Die Festnahme eines 15-Jährigen in Hamburg, das harte Vorgehen gegen einen Jugendlichen in Düsseldorf: Fälle von anscheinend überzogener Polizeigewalt haben in Deutschland zuletzt mehrfach Diskussionen ausgelöst. Um aufzuklären, ob Grenzen überschritten werden, verlangt unter anderem Polizeiforscher Rafael Behr eine unabhängige Ermittlungsbehörde: «Polizeiliches Handeln sollte nicht ausschließlich von Polizisten bewertet werden», sagt Behr.
Der Alltag in den einzelnen Bundesländern sieht anders aus. In weniger als der Hälfte gibt es überhaupt Beschwerdestellen — und nur in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sind diese nach Recherchen des ARD-Magazins «Monitor» auch unabhängig. Umfassende Kompetenzen und genügend Personal, um in Verdachtsfällen zu ermitteln, haben die Beschwerdestellen nicht.
Menschen, die von illegaler Polizeigewalt betroffen sind, bleibt nur: der Gang zur Polizei. Und sehr selten führen diese Ermittlungen zu einer Anklage.
Versuche, zumindest einen Polizeibeauftragten im Bund einzusetzen, scheiterten. Auch Polizeigewerkschafter sprechen sich regelmäßig dagegen aus. Immer wieder wurde Misstrauen gegenüber den Beamten beklagt. Dass man eine solche Stelle auch als Chance begreifen kann, zeigt ein Blick nach Dänemark. Dort gibt es mit der Unabhängigen Polizeibeschwerdebehörde, kurz DUP, eine Institution, die allen Beschwerden über Polizeibeamte bei der Arbeit nachgeht. Ruft man die Homepage der Institution auf, hat man die Wahl: «Wollen Sie sich beschweren?» oder «Wurde sich über Sie beschwert?»
Manche Polizisten, die Letzteres auswählen müssen, finden: Die DUP halte sich mit Kleinkram auf, auch an langen Bearbeitungszeiten gab es Kritik. Chefermittler Niels Raasted, der seit der Gründung 2012 mit dabei ist, erzählt im Interview, warum Unabhängigkeit von der Polizei für seine Behörde das Wichtigste ist.
SPIEGEL: Sie waren früher selbst leitender Polizist. Wie fühlt es sich an, nun gegen die ehemaligen Kollegen zu ermitteln?
Raasted: Das ist schon speziell. Doch ich pflege meine Unabhängigkeit und unterhalte keine privaten Kontakte zu Polizisten mehr. Wenn ich heute einen Polizeichef anrufe, dann weil ich fachlich etwas von ihm wissen will. Zum Abschied vor gut acht Jahren sagte ich den früheren Kollegen, dass ich sie nicht mehr besonders begrüßen würde.
SPIEGEL: Was zeichnet Ihre Arbeit aus?
Raasted: Unabhängigkeit ist unsere DNA. Wir gehen kleineren Beschwerden von Bürgern, zu denen wir direkt eine Kritik aussprechen können, genauso nach wie Straftaten. Wenn es um strafbares Verhalten geht, übergeben wir unsere Ermittlungsergebnisse an den Staatsanwalt. Das kann etwa eine Festnahme sein, bei der der Schlagstock mehr als nötig eingesetzt wurde. Das können unerlaubte Abfragen im Polizeiregister oder Diebstähle sein. In schwerwiegenden Fällen wie dem Verdacht auf Korruption dürfen wir die Polizisten auch abhören und beschatten. Etwa zehnmal in den vergangenen acht Jahren haben wir Polizisten festgenommen.
SPIEGEL: Spüren Sie genügend Rückhalt für Ihre Arbeit?
Raasted: Der Einführung unserer Behörde 2012 gingen fast zehn Jahre Diskussion voraus. Früher entschied zwar auch ein Staatsanwalt über eine Anklage, doch er musste sich dabei auf Ermittlungen der Polizei gegen die eigenen Kollegen verlassen. Das führte zu enormer Kritik. Und so wurde unsere Beschwerdestelle in ihrer jetzigen Form einstimmig vom Parlament eingesetzt.
SPIEGEL: Haben denn Fehltritte in der Polizei seit der Einführung Ihrer Behörde abgenommen?
Raasted: Das ist schwer zu sagen. Die Zahl der Beschwerden jedenfalls hat zugenommen. Aktuell sind es etwa 3000 pro Jahr, doch in vielen Fällen geht es nur um Ordnungswidrigkeiten, also etwa um Polizisten, die zu schnell fahren oder falsch parken. In weniger als einem Viertel der Beschwerden stehen tatsächlich Straftaten im Raum. Dabei geht es oft um die Ausübung von Macht. Wir müssen dann im Einzelfall ermitteln, ob diese so mild wie möglich angewandt wurde und ob es Gründe dafür gab. Ich kann mich in den vergangenen Jahren nur an eine Handvoll Fälle erinnern, in denen Polizisten wegen ungerechtfertigter Gewaltexzesse verurteilt wurden.
SPIEGEL: Im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste wurde zuletzt auch über Rassismus und Racial Profiling bei der Polizei diskutiert. Beschweren sich bei Ihnen mehr Menschen wegen solch einer Diskriminierung?
«Das Verhältnis ist respektvoll, aber auch sehr formell.»
Raasted: Diese Beschwerden gibt es. Sie stammen oft von Menschen, die im Zug oder am Flughafen kontrolliert werden. Doch ich kann nicht sagen, dass die Zahl zuletzt zugenommen hätte.
SPIEGEL: Betrachten die Polizisten Sie als Feind?
Raasted: Dänemark ist ein kleines Land, und die Polizisten kennen uns. Das Verhältnis ist respektvoll, aber auch sehr formell. Die Anhörungen finden fast immer im Beisein eines Rechtsanwalts statt.
SPIEGEL: In Deutschland gibt es Polizeigewerkschafter, die wehren sich gegen unabhängige Beschwerdestellen — und sehen die Beamten unter Generalverdacht gestellt.
Raasted: Bei uns war die Polizeigewerkschaft sehr darauf bedacht, Rechtssicherheit für die betroffenen Beamten herzustellen. Doch die grundlegende Idee, dass unabhängige Aufklärung stattfindet, teilte sie. So eine Institution kann auch ein gutes Argument gegenüber dem Bürger sein, der sich ungerechtfertigt behandelt fühlt — und dann weiß, dass der Fall unabhängig untersucht wird.
SPIEGEL: Teilt diese Ansicht auch der Streifenpolizist, der womöglich Angst hat, etwas falsch zu machen? Schließlich dürfen Sie überall reinschauen …
Raasted: Ja, seine Arbeit wird unter die Lupe genommen, und es werden Fragen gestellt. Manchmal wird auch die polizeiliche Ehre angekratzt. Es gibt Beamte, die verfallen da in eine Verteidigungshaltung. Anders als andere Tatverdächtige, die sich meist nicht zu Vorwürfen äußern, sind Polizisten jedoch fast immer kooperativ und schildern sehr detailliert ihre Sicht der Situation.
SPIEGEL: Wie blicken denn die Bürger auf Ihre Arbeit? Laut einer Umfrage waren 75 Prozent der Menschen, die Beschwerden eingereicht hatten, unzufrieden mit der Behandlung ihres Falls.
Raasted: Ja, es gibt Kritik an unserer Arbeit. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass auch wir nichts daran ändern, dass die Polizei Macht ausübt. Für den Einzelnen fühlt sich das zum Teil sehr einschneidend und belastend an. Doch wir wollen ja auch, dass die Polizei ihre Arbeit machen kann.
SPIEGEL: Was machen Sie, um das Vertrauen in Ihre Arbeit zu stärken?
«Alle Ermittler, die ich eingestellt habe, waren früher Polizisten»
Raasted: Wir versuchen, uns ein umfassendes Bild von der Situation zu verschaffen, und sprechen mit so vielen Menschen wie möglich. Dabei suchen wir vor allem unabhängige Zeugen. Wir werten Videomaterial aus oder lassen Verletzungen von einem Arzt dokumentieren. Wir wollen dem Staatsanwalt die bestmögliche Grundlage für die Entscheidung über eine Anklageerhebung liefern und berichten der Reichspolizei, die dann über mögliche dienstrechtliche Konsequenzen entscheidet.
SPIEGEL: Ist es ein Problem, dass bei Ihnen vor allem ehemalige Polizisten arbeiten?
Raasted: Alle Ermittler, die ich eingestellt habe, waren früher Polizisten. Sie haben dadurch eine große Erfahrung und kennen die Organisation und die Kultur der Polizei. Doch ich glaube nicht, dass das ein Problem ist. Wir versuchen alles, um Interessenkonflikte zu verhindern. So dürfen meine Ermittler keine Fälle aus Polizeikreisen bearbeiten, in denen sie früher tätig waren.
SPIEGEL: Gibt es trotz aller Formalia denn Ermittlungen, die Sie besonders berühren?
Raasted: Wir hatten den Fall eines Polizisten, der kleine Mädchen aus sexuellen Gründen kontaktiert hat (Grooming). Das hat nichts mit der Polizei an sich zu tun, doch das nimmt mich als Mensch schon mit. Genauso Fälle von Korruption. Und dann gibt es natürlich die, in denen jemand gestorben ist.
SPIEGEL: Sind Polizisten denn ebenso kriminell wie andere Bürger?
Raasted: Nein, es geht um einzelne Beamte, die ihre Position ausnutzen. Auch innerhalb der Polizei ist man über diese schwarzen Schafe verärgert.
SPIEGEL: Was würden Sie einem deutschen Polizisten raten, der Angst vor einer unabhängigen Kontrollinstanz hat?
Raasted: Er sollte sich über die Unabhängigkeit freuen — und dass er sein Handeln dort fachlich begründen kann. Es geht um Glaubwürdigkeit.
Source: spiegel.de
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