1. Der Fall Nawalny und die Gas-Pipeline
Die Gas-Pipeline Nord Stream 2 ist fast fertig, nur noch etwa 150 Kilometer der insgesamt 2360 Kilometer fehlen von der Leitung, die Russland und Deutschland verbinden soll. Doch jetzt, nach dem Giftanschlag auf den Kremlkritiker Alexej Nawalny, werden die Forderungen immer lauter, den Bau zu stoppen — oder zumindest auszusetzen. Allein heute sprachen sich die Grünenchefin Annalena Baerbock, der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei Manfred Weber und CDU-Politiker Friedrich Merz gegen den Weiterbau aus.
In der Bundesregierung wird das aber bislang ausgeschlossen, offiziell zumindest. Im Hintergrund räumen Kabinettsmitglieder ein, dass die Option auf jeden Fall diskutiert werden müsse, wie mehrere meiner Kolleginnen und Kollegen recherchiert haben. Die Bauarbeiten für die Pipeline ruhen derzeit ohnehin, weil die USA Sanktionen androhen. «Es wäre also gar nicht so schwierig, ein Moratorium zu verkünden und damit den Baustopp zur Regierungssache zu machen», heißt es in dem Bericht.
2. Ein Appell für weniger Appelle
Selbst der beflissensten Drosten-Hörerin und dem diszipliniertesten Maskenträger fällt es schwer, in der Coronakrise den Überblick zu behalten: Wie genau unterscheiden sich jetzt Isolation und Quarantäne? (Mehr dazu hier.) Und wie hängen R-Wert und Infektionszahlen noch mal zusammen? So langsam zeigen sich Ermüdungserscheinungen auch bei jenen, die zwischen Homeschooling und Homeoffice versucht haben, im deutschlandweiten Grundkurs Virologie und Epidemiologie mitzukommen.
Vor der Bundesregierung macht die Ermüdung offenbar nicht halt, auch nicht vor der Kanzlerin. Zu Beginn der Pandemie gab es eindringliche Worte, eine Fernsehansprache, Orientierung. Jetzt kurze Statements und Verweise auf frühere Aufrufe: «Nehmen Sie es auch weiterhin ernst», sagte Merkel kürzlich. Nicht genug, findet mein Kollege Martin Knobbe aus unserem Hauptstadtbüro: «Reine Appelle genügen nicht, um politisches Handeln zu rechtfertigen.» Die Politik müsse immer wieder präzise belegen, warum sie wie entscheidet. «Sonst verspielt sie das Vertrauen der Menschen, das sie bislang noch besitzt.»
Wie in der Finanz- und der Flüchtlingskrise wiederhole sich bei Corona ein Muster, analysiert Martin:
«Merkel ist in akuten Krisen stark und hoch motiviert, wenn sie Entscheidungen im engen Kreis ihrer Vertrauten trifft. Sie verliert die Kraft, wenn sie ihre Politik längerfristig begründen, diskutieren und gesellschaftlich verankern muss.»
Die Frage ist: warum? Kann oder will sie nicht? «Mir scheint, dass sie manchmal gar nicht die Notwendigkeit sieht, sich zu erklären, so als müsse allen klar sein, dass es nur so gehen kann und nicht anders», sagt Martin. Dazu kommt: Die Kompetenzen in der Pandemie wanderten mehr und mehr zu den Ministerpräsidenten, Merkels Macht ist begrenzt. «Aber sie könnte die Rolle der starken Vermittlerin übernehmen, eine Stimme der Autorität sein, was sie schlicht nicht tut.»
3. Zu Hause ist’s am schwersten
«Wir sind Stromberg«, schrieb mein Kollege Christian Buß einst über den Leiter der Schadensregulierung M-Z bei der Capitol Versicherung AG. «Die Serie führte in die prekäre Arbeitswelt von heute, die jeglicher Sinnhaftigkeit beraubt zu sein scheint, für die jede Woche neue Heilslehren aufgestellt werden, kurz: in der blanke Orientierungslosigkeit herrscht.» Fremdscham, verbunden mit der Freude darüber, dass da jemand war, der seine Großmannallüren derart ungeniert auslebte. «Der all unsere kleinen Kumpaneien, Karriererempeleien und Kollegenmorde plötzlich als lässliche Sünden» erscheinen ließ.
Jetzt sitzen wir Strombergs zu Hunderttausenden seit Monaten im Homeoffice, ohne Kantine und Kaffeeautomat, jeder und jede für sich. Wir beömmeln uns über Bildschirmhintergründe in Videokonferenzen. Wir versuchen, innere Schweinehunde und/oder randalierende Kinder in Schach zu halten und dabei das Tagwerk per Mail und Chat zu verrichten. Eine nicht repräsentative Umfrage in einem Hamburger Homeoffice ergab: Das ist verdammt anstrengend. (Mehr zur Ungleichverteilung von Homeoffice und Hausarbeit zwischen Männern und Frauen lesen Sie hier.)
Jetzt hat ein Team um meinen Kollegen Thomas Schulz recherchiert, wie drastisch die Veränderungen sich auf den Job, das Wohnen und die Familie auswirken, auf die Stadtplanung und das ganze Land. Wer profitiert, wer verliert.
Sie berichten, dass sich viele Menschen laut einer Studie im Homeoffice deutlich weniger gestresst fühlen. «Eine große Mehrheit gab an, dass sie daheim produktiver ist.» Besonders Pendler freuen sich demnach, dass der tägliche Fahrtweg wegfällt. Die Zeitersparnis kommt den Unternehmen zugute: «Die Menschen arbeiten im Homeoffice offenbar deutlich länger als zuvor im Büro, im Schnitt 48,5 Minuten mehr pro Tag.»
Doch viele packt auch der Irrwitz: «Mit dem Laptop auf dem Schoß an der Bettkante sitzend, dazwischen sprangen die Kinder herum, oft telefonierte der Lebenspartner noch im selben Zimmer.» Ein Experte warnt: «Wenn wir alle so von zu Hause arbeiteten, würde die globale Produktivität abstürzen.» Was hätte Stromberg zum Homeoffice gesagt? Das wurde Darsteller Christoph Maria Herbst zu Beginn der Pandemie mal gefragt. Seine Antwort: «Ich würde mir denken, dass er es nicht lange aushält.» Wir anderen Strombergs müssen wohl noch eine Weile — oder dürfen, wie man’s nimmt.
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
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Quarantäne für Rückkehrer aus Risikogebieten soll kürzer werden: Mindestens zehn statt 14 Tage: Die EU-Gesundheitsminister haben beschlossen, dass die Quarantäne für Rückkehrer aus Risikogebieten kürzer ausfallen kann. Die Regel könnte auch in Deutschland greifen.
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Auch Hennig-Wellsow kandidiert für Linkenvorsitz: Nach Janine Wissler greift nun auch die thüringische Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow in den Kampf um den Parteivorsitz ein.
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Christoph Metzelder soll 297 strafbare Dateien auf seinem Handy gespeichert haben: Der frühere Fußballnationalspieler Christoph Metzelder steht unter Verdacht, Kinderpornografie besessen und sie an drei Frauen geschickt zu haben. Nun wurde bekannt, welche Dimension die Vorwürfe haben.
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Trump soll sich verächtlich über getötete Soldaten geäußert haben: «Verlierer» und «Trottel» nannte Donald Trump 2018 Berichten zufolge US-Soldaten, die im Krieg gefallen waren. Den Besuch eines Friedhofs in Frankreich sagte er ab. Der Präsident dementiert die Berichte vehement.
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Cartoonist Uli Stein ist tot: Seine knollennasigen Figuren waren in Zeitschriften und auf Postkarten allgegenwärtig: Uli Stein, Deutschlands wohl bekanntester Cartoonist, ist gestorben.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Was heute nicht so wichtig ist
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Spott-Light: Am Samstag wird Dieter Hallervorden 85 — und will auch an seinem Geburtstag auf der Bühne stehen, natürlich im Berliner Schlosspark Theater, das er betreibt und in dem er weitgehend allmächtig wirkt. Derzeit spielt er Gott im Stück «Gottes Lebenslauf». Der Komödiant, Schauspieler, Autor, den viele als Palim-Palim-Didi und «Die Wanne ist voll»-Sänger kennen, der einst aber auch Witze für Helmut Schmidts Wahlkampfreden besteuerte, sagte der Nachrichtenagentur dpa, vor Corona habe er keine Angst: «Ich finde, man muss Fatalist sein.»
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: «Donald Trump auf dem Soldatenfriedenhof in Arlington Ende 2018»
Cartoon des Tages: Der Nawalny lebt noch?!
Und am Wochenende?
Egal, was Sie tun, einen Termin sollten Sie nicht vergessen: Am Sonntag, um 20.15 Uhr, beginnt in der ARD die neue «Tatort»-Saison — mit einer Folge aus Wien. Kaum jemand in der SPIEGEL-Redaktion würde sich wundern, wenn der Kollege Christian Buß diesen Tag begehen würde wie die Katholiken das Osterfest oder Muslime die Hadsch.
Wann das Interesse erwachte und wie es zur Leidenschaft wurde, weiß Christian nicht mehr genau: «Der ‘Tatort’ war halt immer präsent im Wohnzimmer des Elternhauses; stand da rum wie einer dieser ollen Verwandten auf Familienfeiern, die man nicht unbedingt mochte, die man aber auch nicht ignorieren konnte», sagt er. «Irgendwann fiel mir dann auf, dass man an dem ollen Krimi die Verfasstheit des deutschen Fernsehens, ja des Landes ablesen konnte. Bräsig und gebückt war es oft — aber manchmal auch aufsässig und cool.»
Bis vor ein paar Jahren dachte Christian, dass «es auch bald gut ist mit dem ollen Ding — so wie mit ‘Wetten, dass?’ oder der ‘Lindenstraße'». Doch jedes Jahr stelle er erstaunt fest, dass der «Tatort» immer politischer und relevanter würde. Was aus seiner Sicht leider damit einherginge, dass viele ARD-Fernsehfilme immer unpolitischer und irrelevanter würden — als ob alle Energie und alle Diskurslust in dieses eine Format gelenkt würden. «Die neue Saison hält jedenfalls einige Stoffe parat, über die wir uns wieder ordentlich zoffen werden. Mir soll’s recht sein.» (Mehr zum neuen Wiener «Tatort» lesen Sie hier.)
In der kommenden Woche lesen Sie hier den Kollegen Nils Minkmar. Ich wünsche Ihnen schöne Tage.
Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
Hier können Sie die «Lage am Abend» per Mail bestellen.
Source: spiegel.de
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