Manchmal reicht ein einziges Ereignis, um bei der Corona-Pandemie eine virologische Kettenreaktion auszulösen. Bei einem Gottesdienst in Frankfurt beispielsweise infizierten sich mehr als hundert Menschen, in einem Restaurant in Ostfriesland waren es fast zwei Dutzend.
Solche sogenannten Superspreader-Events sind der Albtraum der Virologen. Aber wie drastisch sich das Virus verbreiten kann, wenn sich Menschen aus verschiedenen Ländern und von verschiedenen Kontinenten treffen, das zeigen Experten nun in einer vorveröffentlichten Studie.
Dafür hatten sie untersucht, wie sich Sars-CoV-2 in der Region Boston ausbreitete. Laut dem Team um Bronwyn MacInnis, einer Epidemiologin am Broad Institute, einer gemeinsamen Forschungseinrichtung der Harvard University und dem MIT (Massachusetts Institute of Technology), hat eine Konferenz eines Biotech-Unternehmens dabei eine entscheidende Rolle gespielt.
175 Führungskräfte der Firma hatten sich Ende Februar in einem Hotel in Boston getroffen. Zu diesem Zeitpunkt schien das Coronavirus kein großes Thema in den USA zu sein. Aber es grassierte bereits und breitete sich auch in den stickigen Konferenzräumen unbemerkt aus. Von dort aus gelangte es bis nach Singapur und Australien, die Forscher konnten die Infektionswege zurückverfolgen. Vermutlich gehen Zehntausende Corona-Fälle auf das Treffen zurück.
Für die Studie hatten die Forscher Analysen des Virusgenoms von mehr als 750 Menschen durchgeführt und die Gendaten anschließend verglichen. So konnten sie die Ausbreitung nachvollziehen. Wenn sich das Virus im Körper vermehrt, wird auch das Genom weitergegeben. Dabei werden auch zufällig auftretende Mutationen von Genen weitergegeben — die meisten davon haben keinen Einfluss auf die Eigenschaften des Virus. Aber die Verbreitung solcher Mutationen erlaubt Rückschlüsse auf den Verlauf der Epidemie.
Der erste Corona-Fall wurde in Boston Ende Januar entdeckt. Bis März schleppten wohl bis zu 80 Personen das Virus in die Region ein. Laut dem genetischen Fingerabdruck der Viren gingen einige der Fälle auf Ausbrüche in Europa zurück. In Boston war in dem Zeitraum auch ein Pflegeheim betroffen, in dem sich 85 Prozent der Patienten und 37 Prozent des Personals infizierten. Aber offenbar konnte das Virus eingedämmt werden — es sind keine weiteren Fälle bekannt, die auf diesen Ausbruch zurückgehen.
Doppelmutation auf der Konferenz
Ganz anders lief das Treffen der Biotech-Experten ab. Die Forscher vermuten, dass das Virus aufgrund der schlecht belüfteten Räume und des engen Kontakts der Menschen auf der Konferenz ideale Bedingungen vorfand, um sich zu verbreiten. Vom Treffen wurden für die Studie das Virusgenom von 28 Personen sequenziert. Alle von ihnen trugen dieselbe Mutation namens C2416T. Die einzigen bekannten Proben mit dieser Mutation vor dem Treffen, stammten von zwei Personen in Frankreich und wurden am 29. Februar genommen.
Ob das Virus zu der Konferenz direkt aus Frankreich mitgebracht wurde oder ob es auf andere Fälle im Großraum Boston zurückgeht, wissen die Forscher nicht. Aber sie wissen, dass es bei dem Treffen zu einer zweiten Mutation kam: G26233T. Sie muss bei der Virusreplikation in einem der Teilnehmer entstanden sein. Jeder Mensch, der sich das Virus über diese Person holte, trug die Doppelmutation in sich.
Rätselhafte Infektionswege
Jacob Lemieux, einer der Mitautoren der Studie und Arzt für Infektionskrankheiten am Massachusetts General Hospital, sagte der «New York Times», es sei unmöglich festzustellen, wie viele Menschen sich in den Monaten nach der Konferenz mit diesem Virus angesteckt haben. Im Umfeld der Konferenz seien mehr als 90 positive Fälle bekannt. Aber nach den Schätzungen sind es weit mehr. Allein im Großraum Boston könnten es bis zu 20.000 Menschen gewesen sein.
Aber schon für diese Region ergeben sich Rätsel bei den Infektionswegen. Die Forscher fanden die Mutationen beispielsweise in einem Obdachlosenheim in 51 Proben. Wie das Virus von der Konferenz dorthin kam, ist unbekannt. Später wurde die Doppelmutation in verschiedenen US-Bundesstaaten gefunden, dazu in Europa, Asien und Australien. Weltweit könnten Zehntausende Fälle auf die Konferenz zurückgehen, schätzt Lemieux.
Die Preprint-Studie ist bisher noch nicht in einem wissenschaftlichen Fachblatt erschienen, sondern wurde von den Forschern bisher nur vorab veröffentlicht. Laut Joshua Schiffer, ein an der Untersuchung nicht beteiligter Mediziner und Experte für statistische Modelle, handele es sich aber um einen wertvollen Beitrag, um die Ausbreitungswege des Virus besser zu verstehen. Die Konferenz sei eines von etlichen Ereignissen gewesen, die in den ersten Monaten nach dem Auftreten in den USA zur Verbreitung beigetragen hätten, so Schiffer gegenüber der «New York Times».
Source: spiegel.de
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