1. Junge Apps und das Programm des Alterns
Mit Sätzen, die mit den Worten «Als ich jung war» anfangen, sollte man sparsam umgehen. Ich glaube, ich habe noch nie so einen Satz geschrieben, also keine Zurückhaltung jetzt: Als ich jung war, fanden wir Bill Gates doof. Wir waren keine eingebildeten 1,3 Millionen und wir fürchteten auch nicht, zwangsgeimpft zu werden von ihm und seinen Schergen. Wir waren einfach ein paar Schüler und empfanden die Nutzung von Microsoft-Programmen als Zumutung. Und klar, den Konzern sahen wir als bösen Monopolisten. Wenn ich mich richtig erinnere, trug jemand auf der Cebit ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Alt+F4», weil das Drücken der beiden Tasten damals die aktiven Fenster schloss und Windows beendete.
Dass ich nicht mehr ganz jung bin, merke ich, wenn es um TikTok geht. Mein Kollege Markus Böhm aus dem Netzwelt-Ressort erklärt mir dann: «Die App ist einerseits eine Videoplattform, welche normale Nutzer, aber auch Prominente mit Kurzvideos und Livestreams füttern, anderseits ein soziales Netzwerk voll eigener Memes und Running Gags.»
Jetzt verhandelt Microsoft mit dem chinesischen Mutterkonzern darüber, TikToks Aktivitäten in den USA, in Kanada, in Australien und in Neuseeland zu übernehmen. «Und das mit dem Segen des Weißen Hauses», berichtet Markus, obwohl Donald Trump noch vor wenigen Tagen die App verbieten lassen wollte. «Für Microsoft böte der Zukauf die Chance, TikToks wachsendes Anzeigengeschäft zu übernehmen sowie junge Menschen zu erreichen.» Damit bin ich raus.
2. Beim Testen was Neues
Plötzlich standen da im Hausflur eine Frau und ein Mann mit Masken und Plastikkitteln: Wie in «Outbreak», habe ich gedacht; es waren aber nicht Rene Russo und Dustin Hoffmann, sondern zwei vom Gesundheitsamt. Sie nahmen beim Nachbarn einen Abstrich, der war zuvor in Österreich gewesen. Anfang März in Hamburg kam mir das noch komisch vor.
Nach fast einem halben Jahr Pandemie habe ich mich gewöhnt an Leute in Schutzkleidung, an maskierte Bankangestellte und behandschuhte Gemüseverkäufer, bin fast dankbar dafür, dass überall Sterillium-Spender herumstehen. Vor nicht allzu langer Zeit ging es noch darum, ob Reisende am Flughafen einen Rachenabstrich machen können, damit sie im Urlaub nicht in Quarantäne müssen. In dieser Woche sind wir bei Pflichttests für Rückkehrer aus Risikoländern angekommen. Viele Kitas schalten wieder auf Regelbetrieb um; die Schulen machen langsam wieder auf, manche Länder verordnen Masken, andere nicht, manche nur auf den Fluren, andere in den Klassen. Das föderale Durcheinander gehört zum Grundrauschen der Coronakrise.
In Bayern bezahlen die Krankenkassen jedem die Tests, im Rest des Landes muss man Symptome haben oder Risikokontakte. «Faktisch sind wir aber mittlerweile alle Bayern, weil die Kriterien gelockert wurden», sagt Katherine Rydlink aus unserem Gesundheitsteam. «Wenn du zu einem Arzt gehst und sagst, du riechst nichts mehr, dann liegt die Entscheidung in seinem Ermessen — und du kriegst überall in Deutschland fast immer einen Test.» Das Problem überall: Die PCR-Methode liefert nur bedingt zuverlässige Ergebnisse — «es sind immer nur Momentaufnahmen», sagt Katherine. In Großbritannien wollen sie jetzt Schnelltests einführen (hier lesen Sie, wie zuverlässig sie sind).
Das Gesundheitsamt ist nicht mehr bei uns aufgetaucht, dem Nachbarn geht’s gut. Sogar Verwandtenbesuche ohne Angst gelingen wieder (dieser Text von Katherine hat bei der Planung geholfen). Aber das Nachdenken über Wahrscheinlichkeiten, das Abwägen von Risiken, die permanente Unsicherheit — all das wird wohl noch eine Weile bleiben.
3. Abschied von Hans-Jochen Vogel
In München habe ich einmal Hans-Jochen Vogel in der U-Bahn gesehen, die Leute grüßten ihn, er grüßte freundlich zurück. Ein bisschen habe ich mir gewünscht, es wäre Berlin gewesen, wo ich damals noch lebte und das er ja auch mal regierte.
Auch in München haben jetzt bei einer Trauerfeier Genossen, Freunde und Familie Abschied von Vogel genommen, er war vor gut einer Woche gestorben. Sie würdigten den früheren SPD-Chef als «Vorbild an Korrektheit und Geradlinigkeit». Seine Witwe Liselotte berichtete in einer bewegenden Rede davon, wie ihr Mann noch wenige Tage vor seinem Tod wegen einer unheilbaren Erkrankung seinen Rückzug von allen Ehrenämtern erklärt hat. Sie zitierte ihn mit den Worten: «Sorgen Sie dafür, dass Deutschland bleibt, wofür wir gekämpft haben.»
SPIEGEL Update – Die Nachrichten
Was heute sonst noch wichtig ist
Mein Lieblingsinterview heute: Warum Dynastien scheitern
Porsche, Miele, Krupp oder Henkel – diese Namen kennt so gut wie jeder hierzulande, jedenfalls in der Altersgruppe 40+. Doch wer sind die Familien, die diesen Firmen ihren Namen gaben und die für deutsche Wertarbeit stehen? Meine Kollegin Eva-Maria Schnurr und unser Geschichtsressort haben ein ganzes Heft über die «Dynastien der deutschen Wirtschaft» produziert (zu bestellen hier).
Mit dem Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe hat sie, zusammen mit dem Kollegen Joachim Mohr, darüber gesprochen, wie sehr sich Unternehmerfamilien den politischen Gegebenheiten angepasst haben, etwa in der Kaiserzeit oder im Nationalsozialismus. «Plumpe betont die Eigenlogik der Wirtschaft gegenüber Werten und ethischen Maßstäben der Familien», sagt Eva-Maria. «Nach seiner Auffassung hatten Unternehmen in der NS-Zeit kaum Handlungsspielräume; sie mussten mit dem Regime kooperieren, weil immer die wirtschaftliche Grundlage der Familie auf dem Spiel stand. Das fand ich ernüchternd.»
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Hochzeitsmarkt in Shanghai: «Es geht nicht um Liebe, sondern um Geld». Die Verhandlungen sind hart, die Kriterien streng. Mütter und Väter versuchen, ihre Kinder zu verkuppeln.
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Statistiker über erfolgreiche Corona-Maßnahmen: «Schulschließungen sind extrem wirksam». Ein Forscherteam aus Wien hat Corona-Daten aus 76 Regionen analysiert. Hier wird erklärt, welche Methoden eine zweite Welle abfedern könnten..
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Wie sich die Motel-One-Gründer durch die Krise kämpfen: Mit ihren Budgethäusern hat die Kette Motel One das Hotelgewerbe aufgemischt. Doch die Krise hat nun auch das Gründerpaar erwischt.
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Siemens, Volkswagen, Wirecard: Warum deutsche Unternehmen so anfällig für Skandale sind. Der Milliardenbetrug bei Wirecard war möglich, weil es korrupte Manager schon lange viel zu leicht haben. Die Politik hat aus den Affären der Vergangenheit nichts gelernt.
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Expertin über leichtsinnige Jugendliche: Helfen Alkoholverbote gegen die zweite Welle? Feiern, Freunde treffen, sorglos sein — alles normale Bedürfnisse, sagt die Psychologin Karina Weichold. In der Corona-Zeit sind sie aber problematisch.
Was heute nicht so wichtig ist
Beimer für die Seele: Die Seriendarstellerin Marie-Luise Marjan, 79, bekannt aus der berühmtesten Adresse des deutschen Fernsehens, vermisst die «Lindenstraße», wie sie der Nachrichtenagentur dpa sagte. Die letzte Folge lief bereits im März, ein Fest gab es wegen Corona nicht. «Das ist wirklich sehr traurig. Wir konnten uns gar nicht alle richtig voneinander verabschieden.»
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: «Die Filemacherin Natalija Yefimkina hat für ihre Dokumentation ‘Garagenvolk’ (2020) diese Rückzugsorte besucht.»
Cartoon des Tages: Demo in Corona-Zeiten
Und heute Abend?
Vielleicht ein bisschen Eskapismus in die Eighties-Thriller-Welt: Der Roman «American Spy» von Lauren Wilkinson schildert furios die Abenteuer einer schwarzen CIA-Agentin in den Achtzigerjahren — und dichtet ihr eine Romanze mit einem afrikanischen Politiker an. Mein Kollege Wolfgang Höbel bespricht das Buch hier.
In diesem Sinne: Erst in die Achtziger flüchten, dann Prost!
Bis morgen, herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
Hier können Sie die «Lage am Abend» per Mail bestellen.
Source: spiegel.de
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