Kurz vor ihrem ersten Tor eroberten die Bayern den Ball. Vor ihrem zweiten Tor eroberten die Bayern den Ball ebenfalls. Und vor dem vierten. Und dem siebten.
Von den acht Bayern-Treffern, die am Freitagabend in Lissabon fielen, wird man vor allem den fünften erinnern. Als der 19 Jahre alte Münchner Alphonso Davies erst Lionel Messi ausspielte, dann Arturo Vidal, dann Nelson Semedo, dann Joshua Kimmich bediente. Er wird einem in den Sinn kommen, wenn künftig an dieses 8:2 der Bayern im Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Barcelona zurückdenkt. Wie Philipp Lahms 1:0 für die Nationalelf bei der WM 2006. Grafites Hackentor für den VfL Wolfsburg gegen die Bayern 2009.
Dem Tor wäre das angemessen. Dem Spiel eigentlich nicht.
Gegen Barcelona war weniger Davies’ Solo entscheidend, auch nicht das Münchner Kombinationsspiel. Sondern das Pressing. Die Art, wie die Münchner klug abgestimmt auf Balljagd gingen, die Intensität, mit der sie es taten, das waren die größten Unterschiede zwischen den beiden Mannschaften.
Das Spiel bot den Bayern ein perfektes Setting. Athletik gegen Alter. Die einen dynamisch, die anderen träge. In vielen Momenten schien es, als würden die Münchner ihre Gegner einfach überrennen. Barcelona-Grande Sergio Busquets, 32, nahm gerade den Ball an, da wuchtete ihm Leon Goretzka schon entgegen.
Das Pressing der Bayern aber war nicht nur intensiv, es war auch schlau. Die Mannschaft war bestens auf Barcelonas Spielaufbau eingestellt, sie schaffte fast überall auf dem Rasen Pärchen, erzeugte im Aufbau der Katalanen Momente der Manndeckung. Goretzka übernahm oft Frenkie de Jong, Robert Lewandowski deckte Busquets und so weiter.
Kovac hatte sich getäuscht
Komplizierter wurde es, wenn Barcelona darauf zu reagieren versuchte, indem es seine Staffelungen veränderte. Doch damit kam Barça den Bayern nicht bei. Denn deren Pressing war flexibel: Änderten sich die Anforderungen, passten sie sich an, oft orchestriert von Müller, dessen Kommandos über den Rasen des Estadio da Luz röhrten.
Es ist kaum ein Jahr her, da hatte Niko Kovac der eigenen Mannschaft abgesprochen, ein Pressing spielen zu können wie es der FC Liverpool unter Jürgen Klopp tut. «Man kann nicht versuchen, 200 km/h auf der Autobahn zu fahren, wenn die Spieler nur 100 schaffen», sagte er. Kovac, selbst ein Trainer, der eher über das Verteidigen kommt denn über das Angreifen, hatte das frühe Pressing gestrichen, das eigentlich seit Jahren zum Bayern-Spiel gehörte.
Als Hansi Flick Kovac ablöste, tat er das Naheliegende: Er führte jenes Angriffspressing wieder ein. Für neue Trainer kann es ein schneller Weg zum Erfolg sein, auf genau das zu setzen, was der Vorgänger vernachlässigt hatte. Ein Wechsel der Taktik, das Bringen eines Spielers, der zuvor außen vor gewesen war und es nun allen zeigen möchte.
Bei Flick dürfte es aber nicht nur um Reizpunkte gegangen sein. Er forcierte das Pressing seit seinem Antritt im November immer weiter. Es ist heute, neben den Positionswechseln in Ballbesitz, eines der prägenden Markenzeichen der Flick-Bayern.
Denn Kovac hatte sich getäuscht. Lewandowski mit seiner Athletik und seinem klugen Anlaufverhalten; Müller, der Dauerläufer und Ansager; dahinter der das Spiel verstehende Thiago oder zuletzt der Kraftmensch Goretzka: Diese Bayern sind wie gemacht fürs Pressing.
Bälle gewinnen geht nur gemeinsam
Vor dem ersten Tor gegen Barcelona stresste Goretzka Busquets im Mittelfeld und brachte diesen zu einem unüberlegten Pass zu de Jong. Als der an den Ball kam, war Müller schon da, er attackierte seitlich von hinten, sodass de Jong ihn erst wahrnahm, als es zu spät war. Vor dem 2:1: anderer Spieler, ähnliche Balleroberung. Lewandowski presste von hinten. Im Moment des Ballgewinns hatten die Bayern eine Vier-gegen-zwei-Überzahl geschaffen. Vor dem siebten Tor war es ähnlich. Bälle zu gewinnen ist eine Sache des Kollektivs. Es setzt sich zusammen aus einer Attacke von hinten und gleichzeitigem Zustellen aller möglichen Passwege.
Was dem ballführenden Gegenspieler bleibt, ist ein waghalsiges Manöver, ein Dribbling etwa. Oder das Gegenteil: ein Befreiungsschlag. Beides konnte Barcelona nicht leisten, dem Mittelfeld fehlte es an Beweglichkeit, vorne die Stürmer, die in die Tiefe gehen.
Das Ergebnis war erschreckend. Man muss wohl weit zurückblicken in die Geschichte des Klubs, um eine Partie zu finden, in der die Katalanen so oft Bälle nahe dem eigenen Strafraum verloren.
Flicks Bayern sind zudem sportlich Profiteure der Coronakrise. Aus der Bundesliga-Pause im Mai kamen sie fitter hervor als zuletzt. Sie gewannen jedes Spiel. Als dann gegen Ende der Saison ein wenig die Kraft auszugehen schien, kam die nächste Unterbrechung, seit Anfang Juli konnten die Bayern pausieren, ehe es vergangene Woche gegen Chelsea im Achtelfinale weiterging. Wahrscheinlich sind sie neben Leipzig das fitteste Team bei diesem Turnier.
Manchester City wird eine größere Hürde
Anders wären Szenen wie die in der Schlussphase wohl nicht zu erklären gewesen. Da stemmte Goretzka die Hände auf die Oberschenkel, der Ball war gerade im Aus. Goretzka schnaubte, als sei er gerade einen Marathon gelaufen. Als der Ball zurück auf dem Feld war, richtete er sich auf und rannte weiter. Den Barça-Spielern schien da längst die Luft ausgegangen zu sein.
Dass es möglich ist, dem Bayern-Pressing zu widerstehen, wenn man sich richtig darauf einstellt und die passenden Spieler im Kader hat, hat Borussia Dortmund zumindest angedeutet. Im Mai erwehrte sich der BVB des bayerischen Drucks mit einigem Erfolg. Er verlor zwar das Ligaspitzenspiel 0:1. Aber er bot den Bayern eine Partie auf Augenhöhe. So gut sah gegen die Bayern seither kaum mehr ein Team aus.
In einem möglichen Halbfinale gegen Manchester City könnte das anders sein. Sollte sich City am Abend gegen Lyon durchsetzen (21 Uhr, Liveticker: SPIEGEL, Stream: Dazn), müssten die Bayern am Mittwoch zeigen, dass sie mit ihrem Pressing auch gegen eine Pep-Guardiola-Mannschaft erfolgreich sind. Die sind Experten darin, das gegnerische Pressing ins Leere laufen zu lassen.
Ob das ihnen gegen den FC Bayern gelingen wird? Offen. Aber eines ist gewiss: City wird eine größere Hürde, als es Barcelona gewesen ist.
Source: spiegel.de
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