пятница, 21 августа 2020 г.

Christoph Schlingensief: Für ihn war das Politische privat

Seinen ersten Film machte der Junge mit acht Jahren. Eine wirre Verfolgungsjagd zwischen Go-Kart und Kindern, gedreht mit einer Doppel-Acht-Kamera, die alle zehn Sekunden neu aufgezogen werden musste. Der Regisseur rief «Stop!», die Akteure blieben stehen, die Kamera wurde angekurbelt, danach ging es weiter. Jene dadurch entstandenen, plötzlichen Bewegungs- und Handlungspausen irritierten im späteren Film. Und waren somit vielleicht einer der ersten typischen Christoph-Schlingensief-Effekte.

Die aus privaten und öffentlichen Filmen, Fernsehausschnitten, Interviews und Theateraufnahmen montierte Collage «Schlingensief — In das Schweigen hineinschreien» von Bettina Böhler, die jetzt im Kino anläuft, versucht gar nicht erst, Christoph Schlingensief in einen engen formalen Rahmen zu sperren. Denn der multimediale Künstler, der am 21. August 2010 im Alter von 49 Jahren an einer Krebserkrankung starb, sprengt sie eh alle: Der Apothekersohn und Messdiener, der (trotz Bewerbungen) unausgebildete Filmemacher und später ebenso gefeierte wie skandalisierte Bühnenregisseur interessierte sich vor allem für das «Dazwischen» — wie die durch unfreiwillige Doppelbelichtungen entstandenen Störbilder in den Urlaubs-Amateurfilmen seines Vaters, die ihn als Kind fasziniert hatten.

Die Regisseurin und versierte Editorin Böhler, die für zwei seiner Filme mit Schlingensief zusammengearbeitet hatte, komponiert ihr Porträt entlang einer leisen, biografischen Zeitleiste, lässt es aber bei Bedarf immer wieder assoziativ zurückspringen. Da kein einziges Interview, vermutlich auch kein einziges sonstiges Gespräch existiert, in dem Schlingensief müde, humor-, lust- oder leidenschaftslos wirkt, kann sie seine feurigen Aussagen im On und Off mannigfaltig einsetzen.

Böhler geht von den frühen Filmen, von denen einer («Menu Total» mit Helge Schneider, Naziuniformen und Polonaise) 1986 im Forum der Berlinale ausgebuht wurde, über viele weitere, bei denen es nach Eigenaussage stets «um Überforderung» ging, über die Inszenierungen an der Volksbühne und anderen Theatern bis nach Bayreuth. Dort wurde Schlingensief für die Festspiele 2004 zunächst ein- und dann, nach der Sache mit «Hasifal» (bei seiner «Parsifal»-Inszenierung zeigte er den Kurzfilm eines verwesenden Hasen), empört und schockiert wieder ausgeladen. Schlingensiefs Fernsehformate («Freakstars 3000«), seine skandalträchtige Geflüchteten-Container-Aktion im bis ins Mark erbosten Wien und das kurz vor seinem Tod eröffnete «Operndorf Afrika» sind ebenfalls Thema.

Klar wird im Film, dass für Schlingensief nicht etwa das Private politisch, sondern das Politische absolut privat war: Man arbeite sich an alten Traumata ab, die in den Zellen steckten, sagt er irgendwann und erwähnt einen möglichen familiären Zusammenhang mit einer Nazigröße: «Ich bin über einige Ecken mit Goebbels verwandt.»

Die in fast allen Schlingensief-Arbeiten steckende, in jenen grotesken «Störbildern» ausgedrückte Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit ist deutlich: Es ginge darum, «sich mit Miniportionen Gift zu heilen», sagte der Regisseur, der den Mauerfall 1989 stante pede ablehnte, weil ihn der sofort einsetzende, lärmende Patriotismus auf beiden Seiten nervte. In einem Fernsehbeitrag schreit Schlingensief, der in einem «Voodoo-Ritual» den Vorgarten von «Möllemanns Waffenhändler» beschmutzt, einen Kritiker an: «ICH fühle mich durch SEINE Politik beschmutzt!»

Auch mit welchen Methoden Schlingensief arbeitete, kann man in Böhlers zugewandter Collage entdecken: Es gehe darum, sagt er in einem der Gespräche, «in der übertriebenen Situation mehr Wahrheit zu finden» als im Realismus. Dass Schlingensief keinen Unterschied zwischen Bühne und Privatleben machte, sich (mit einem starken Hang zum Narzissmus) selbst stets mitarrangierte und auch von allen Kollaborateurinnen und Kollaborateuren das Gleiche erwartete, war anscheinend Teil seines Charakters — Böhler verzichtet aber auf küchenpsychologische Deutungen ebenso wie auf die im Doku-Genre sonst üblichen, affirmativen Interviews mit Weggefährten — und lässt ausschließlich Schlingensief selbst reden.

Hochinteressant für Fans, die Schlingensiefs Volksbühnen-Inszenierungen der Neunziger- und Nullerjahre selbst erlebten, ist die Erkenntnis, dass eine große Portion Zufall in der Genese des Künstlers steckt: Was wäre, wenn der Intendant Frank Castorf ihn damals nicht ans Berliner Traditionshaus geholt hätte, um ihm, dem Theaterneuling, dann sämtliche Freiheiten zu lassen? Hätte ein anderer Theaterleiter, eine andere Leiterin Ähnliches gewagt? Oder wäre Schlingensiefs Œuvre, ähnlich dem vieler weiterer, unkonventioneller Experimentalfilmer, in einer Nische geblieben?

Radikale Synthese von Privatem und Politischem

Schlingensiefs radikale Synthese von Privatem und Politischem, seine interdisziplinäre Furchtlosigkeit, sein Desinteresse an Gefälligkeit (gepaart mit besagtem Narzissmus, in dem auch ein gewisses Desinteresse an den Befindlichkeiten anderer steckte), konnte durch diese Fügung jedoch einen großen Einfluss entwickeln, konnte da wirken, wo es etwas anzurichten gab: bei der teilweise satten Kulturposse Bayreuths; beim MTV-Publikum; bei der geharnischten Bevölkerung Wiens; bei überraschten, amüsierten oder wütenden Theatergängern. 

«Hamlet, Hamlet, Hamlet!», schreien in einer Szene in Böhlers Filmporträt Zuschauer und Zuschauerinnen der Volksbühne, denen Schlingensief 2001 statt dem dänischen Prinzen eine Diskussion mit Ex-Neonazis vorsetzt. Auch in den Jahren zuvor überschritt das Theater oft seine Grenzen. Schlingensief wrang es richtig aus.

Icon: Der Spiegel

Source: spiegel.de

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