«Il Processo», Netflix
Zeitbudget: Acht Folgen à 45 bis 57 Minuten
Für Fans von: «365 Tage», «La Grande Belezza», «Die Einsamkeit der Primzahlen»
Schamlose Begeisterung für Schund ist oft viel interessanter als guter Geschmack. In diesem Sinn wollen wir an diesem Wochenende mal nicht den allercoolsten Neuheiten nachjagen, sondern ein paar höchst unterhaltsame und gar nicht so dumme Trivialitäten empfehlen. In der italienischen Netflix-Serie «Il Processo» wird dem Mord an einer Siebzehnjährigen hinterherermittelt, die offenbar als Gelegenheitsprostituierte gearbeitet hat.
Die Hauptfigur der Serie ist eine Staatsanwältin namens Guerra, zu deutsch Krieg, und sie stellt bald mit etwas lachhafter, weil nicht sehr glaubwürdiger Verblüffung fest, dass das Mordopfer ihre eigene Tochter war, die sie nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. Auf dieser Grundidee eine Serie aufzubauen, ist schon mal verwegen, aber Drehbuchautor Alessandro Fabbri und Regisseur Stefano Lodovichi suchen sowieso weniger nach einem Krimistoff als nach dem großen Melodram. Die Anklägerin Guerra (Vittoria Puccini) kämpft gegen viele private Dämonen und gegen die Welt des Großkapitals, in der sie ihre Hauptverdächtige findet. Vor allem aber gegen ihre erotische Verzückung: Sie ist sehr schnell verknallt in den Verteidiger der mutmaßlichen Mörderin. Dieser natürlich unwiderstehliche Anwalt wird von dem hübschen italienischen Darsteller Francesco Scianna gespielt.
Es ist keineswegs großartige Schauspielkunst, die das unmögliche Liebespaar im Zentrum dieser Serie bietet — sie ist oft erschöpft, hohläugig und zerzaust, er meist ein stolzer Gockel -, aber man sieht den beiden aus rätselhaftem Grund immer hingerissen zu. «Il Processo» spielt in einem schrecklich korrupten und bezaubernden Italien. Unter den Darstellern ist auch der durch die polnische Serie «365 Tage» zu plötzlichem Ruhm gekommene Michele Morrone. Der eigentliche Star des Films aber ist die Stadt Mantua. Wer noch nie dort war, lernt sie hier kennen — weil ihre Häuser und Paläste, Plätze und Wasserlandschaften acht Folgen lang auf wirklich herzzerreißende Weise gefeiert werden, als gäbe es keinen schöneren Ort auf der Welt. Gibt es einen?
Angst vor der Talentvergeudung: Jane Birkin als Künstlergattin und Michel Piccoli als Maler in Jacques Rivettes Film
Foto: ddp images
«Die schöne Querulantin», Arte Mediathek
Zeitbudget: 240 Minuten
Für Fans von: «Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit», «Bohemian Rhapsody»
Künstlerdramen sind immer nah am Schwulst. «Die schöne Querulantin» von Jacques Rivette ist da keine Ausnahme, gilt aber vielen Cineastinnen und Cineasten trotzdem als Meisterwerk. Der sagenhaft virile und vor Kurzem verstorbene Schauspieler Michel Piccoli verkörpert einen älteren Malerfürsten in der Sinnkrise und im Schatten später Mädchenblüte. Sein Atelier ist ein Landschloss in Südfrankreich. Die zur Drehzeit 27-jährige Emmanuelle Béart spielt in diesem Vierstundenfilm aus dem Jahr 1991 die meist nackte Frau, die dem Maler Modell sitzt (und steht) und sich mit ihm ein wildes Duell liefert. Es geht um Zerstörungslust, Lebenskraft, Geschlechterhass und Verlangen. Und natürlich geht es um Angst.
«Unzufriedenheit mit sich selbst bildet das Grundelement jedes echten Talents», hat Anton Tschechow gesagt. Die Furcht, ihre Lebensgaben zu vergeuden, treibt alle, auch die von Jane Birkin und David Bursztein gespielten Nebenfiguren des Films an. Angeblich beruht das Drehbuch auf einer literarischen Vorlage von Balzac, trotzdem sagt der Maler klischeesatte Sätze. «Wenn ich bis ans Ende gehe», behauptet er zum Beispiel, «ist Blut auf der Leinwand.» Die Art, wie hier vom Machtverhältnis zwischen (natürlich kreativen) Männern und (irgendwie opferwilligen) Frauen erzählt wird, ist unfassbar altmodisch und muss auf heutige Zuseherinnen und Zuseher peinlich und manchmal sogar empörend wirken.
Immerhin lernt und sieht man hier aber einiges über das merkwürdige Handwerk der Malerei, über Kohlestifte, Pinselstriche, raschelndes Papier. Vor allem aber spürt man eine heitere Trauer in diesem Film, in dem ein nicht mehr junger Regisseur ganz nüchtern festzustellen scheint, wie vergeblich die meisten eitlen Kunstanstrengungen am Ende doch bleiben.
Joe Cole und Sope Dirisu als Kämpfer in der Londoner Unterwelt: Gangstermanieren für Hartgesottene
Foto: Sky
«Gangs of London», Sky
Zeitbudget: Neun Folgen à 42 Minuten
Für Fans von: «Die Sopranos«, «Peaky Blinders – Gangs of Birmingham», «Stirb langsam»
Brutalität ist auch nur eine Form von Kitsch. In der Serie «Gangs of London», die in Deutschland gerade auf Sky angelaufen ist und in Großbritannien schon länger ein umstrittener Erfolg ist, wird auf eine Weise gebombt, geballert, gefoltert und sonst wie grobschlächtig mit Menschenleibern umgegangen, dass es für ein nicht so hartgesottenes Publikum eine Zumutung ist. Der Serienerfinder — neudeutsch Showrunner — Gareth Evans erzählt von einem Clankrieg um die Macht in der Londoner Unterwelt.
Gleich zu Beginn der ersten Folge sieht man einen lichterloh brennenden menschlichen Körper von einem Hochhaus stürzen. Nach der Ermordung des Paten Finn Wallace (Colm Meaney) muss die Gangsterhierarchie Londons auf grotesk blutige Weise neu sortiert werden — und der milchgesichtige Erbe des alten Bosses (Joe Cole) findet dabei vor allem durch einen supertaffen Draufgänger Unterstützung, der grandios lässig und äußerst gewalttätig von Sope Dirisu gespielt wird. Es ist ein stark von der Ästhetik von Computerspielen inspirierter Horror, der hier in oft erstaunlich ruhigen Bildern ausgebreitet wird.
«Früher gab es öffentliche Hinrichtungen», hat Martin Scorsese mal gesagt, «heute gibt es das Fernsehen». Da kannte er Streamingserien wie «Gangs of London» bloß noch nicht.
Es gibt aber auch Menschen, die sich die Serie angesehen haben und behaupten, sie sei eine politische Provokation, weil sie suggeriere, dass die reale Kriminalität in manchen Vierteln der britischen Hauptstadt von den hier gezeigten Gräueln gar nicht weit entfernt sei. Die Schauspielerinnen und Schauspieler in «Gangs of London» sind jedenfalls praktisch allesamt großartig, im Norden von Wales findet sich ein hochinteressanter Nebenschauplatz, auch sonst gibt es viele Überraschungen. Aber erklärt das, dass viele Menschen diesem doch ziemlich kaputten Wahnsinn so fasziniert zusehen? «Früher gab es öffentliche Hinrichtungen», hat Martin Scorsese mal gesagt, «heute gibt es das Fernsehen». Da kannte er Streamingserien wie «Gangs of London» bloß noch nicht.
Source: spiegel.de
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