1. Apple findet «Pay» toll, will aber nicht zahlen
Zu den Merkwürdigkeiten der ersten Corona-Wochen gehörten die Zahnstocher und Wattestäbchen, die einem an der Kasse gereicht wurden zur Eingabe der EC-Geheimzahl. Die Angst vor der Schmierinfektion ließ uns, das Volk der Bargeldliebhaber, überlaufen ins Lager der Kartenzahler, allerdings mit spitzen Fingern.
Einige bezahlten da lieber gleich mit dem Mobiltelefon — ein Trend, der offenbar anhält. Zu den meistgesuchten Meldungen bei Google gehört heute diese: Die EC-Karten (und nicht nur die Kreditkarten) der manchmal behäbigen deutschen Sparkassen lassen sich künftig mit der Funktion «Apple Pay» verknüpfen; das iPhone ersetzt die Geldbörse. (Wäre ich Werbetexter, schlüge ich den Slogan vor: S ist so weit. Mit dem roten Sparkassen-S versteht sich.)
Mit Apple bezahlen, am besten für Apple-Produkte — das freut den US-Konzern natürlich. Selbst bezahlt er nicht so gern, jedenfalls keine Steuern, so wirkt es: Die eigene Abgabenlast rechnet er lieber klein. Entsprechend froh dürften die Manager und Anwälte von Apple gewesen sein, als heute auf ihren Telefonen und Uhren die Eilmeldungen erschienen: Die EU-Kommission scheitert mit ihrer Rekordsteuernachforderung von 13 Milliarden Euro vor Gericht.
Eine Schlappe für die EU-Kommission, aber keine ganz überraschende, wenn man sich so gut auskennt wie mein Kollege Stefan Schultz aus unserem Wirtschaftsressort: «Es war leider absehbar, dass das so ausgeht», sagt er. Das Hauptproblem: «Es gibt keine EU-weiten Mindeststandards, um Steuerdumping zu unterbinden.»
Um das Warum zu verstehen, ein kurzer Sprung zurück: Irland, wo Apple seinen Europa-Sitz für die Vertriebstochter unterhält, hatte dem Konzern in den Jahren 1991 und 2007 Sonderkonditionen zugesichert. Im Prinzip funktionierte der Deal so: Ihr lasst euch bei uns nieder, wir schonen euch steuerlich. Über ihre Steuern entscheiden in Europa die einzelnen Länder. Die EU-Kommission fordert nun mit einem rechtlichen Trick die angeblich ausstehenden Beträge zurück. «Sie zweckentfremdet das europäische Wettbewerbsrecht», sagt Stefan Schultz, «um Konzerne und Staaten in die Schranken zu weisen. Und das funktioniert eben längst nicht immer.» Apple doesn’t Pay.
2. Der Arzt, dem Trump nicht traut
Zu den Phänomenen der Coronakrise zählt auch, dass sie Wissenschaftlern und Experten eine ungekannte Prominenz beschert; Grundschullehrer und Taxifahrerinnen kennen plötzlich die Namen von Virologen wie Christian Drosten, Zehntausende verfolgen die Liveschalten zu Lothar Wieler vom Robert Koch-Institut.
Aber wohl kein anderer hat es zu der Bekanntheit Anthony Faucis gebracht. Der US-Immunologe war lange «die amerikanische Stimme der Vernunft», wie mein Kollege Marc Pitzke schreibt. Eine Stimme, die Donald Trump und seine Leute zunehmend nervt. Denn Faucis Einschätzungen und Empfehlungen basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht auf alternativen Fakten. Er stört die Comeback-Erzählung, mit der Trump die Wahl im Herbst doch noch gewinnen will. «Der US-Präsident und eine Vasallen führen eine koordinierte PR-Kampagne gegen Fauci, den sie hinter vorgehaltener Hand als ‘Dr. Gloom and Doom’ (‘Dr. Untergang und Verderben’) verspotten», berichtet Marc Pitzke. Sie demontieren den Experten.
Mehr Besorgnis erregt bei mir allerdings die Nachricht, dass die US-Krankenhäuser ihre Bettenzahlen und Coronafälle seit heute direkt an Trumps Gesundheitsministerium melden müssen — und nicht mehr der Seuchenbehörde CDC und ihren Außenstellen mitteilen dürfen. Die zentrale Sammlung diene dem besseren Überblick, heißt es. Ich befürchte, auch diese Begründung gehört ins Reich der alternativen Fakten. Auf mich wirkt es so: Trumps Leute bringen nicht nur die Experten zum Schweigen, sondern auch die Zahlen.
3. Wirecard, der Fortsetzungskrimi
Nicht ganz leicht, im Finanzskandal um Wirecard den Überblick zu behalten. Die neue Folge verspricht aber Spannung: Ein Staatssekretär im Finanzministerium hat im November 2019 mit dem damaligen Firmenchef Markus Braun auch über die Wirtschaftsprüfungsfirma KPMG gesprochen, die kurz zuvor eine Sonderprüfung des Dax-Unternehmens begonnen hatte. Das geht aus geheimen Unterlagen der Bundesregierung hervor, wie meine Kollegen Tim Bartz und Gerald Traufetter sowie meine Kollegin Anne Seith recherchiert haben.
Brisant daran: Das Ministerium wollte die Unterlagen erst nicht rausrücken, aus Gründen des Geheimschutzes. Ein Protokoll der Gespräche gibt es offenbar auch nicht. Dabei wüsste man ja schon gern, was genau dort besprochen wurde. Fortsetzung folgt.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Auf dem Friedhof mit Schauspieler Albrecht Schuch
Wahrscheinlich gibt es in der Redaktion niemand Geeigneteren als meinen Kollegen Takis Würger, um den Schauspieler Albrecht Schuch zu porträtieren. Schuch spielt in der Serie «Bad Banks» den Manager, der nachts loszieht und sich mit anderen Hooligans prügelt. Takis boxt und schreibt übers Boxen; er macht Liegestütze auf dem Redaktionsflur, und man tritt ihm nicht zu nah, wenn man ihm unterstellt: Die Rohheit von Männlichkeitsritualen übt eine gewisse Faszination auf ihn aus. Er begleitete Soldaten in Afghanistan, berichtete über die Arbeit von Sterneköchen und die Selbstinszenierung von Erfolgsautoren.
«Ich interessiere mich für Hools seit dem Buch ‘Among the Thugs’ von Bill Buford», sagt Takis. «Schuch hätte nicht mal ein guter Schauspieler sein müssen, in seiner Rolle als Hool mochte ich ihn sofort.» Mittlerweile gilt Schuch als einer der besten Schauspieler Deutschlands (Deutscher Filmpreis 2019 für die «beste männliche Hauptrolle» und für die «beste männliche Nebenrolle»), jetzt spielt er den Reinhold in der Neuverfilmung von «Berlin Alexanderplatz», die morgen anläuft.
Takis traf Schuch auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, wollte der Schauspieler so. Was denkt man, wenn jemand einen solchen Treffpunkt vorschlägt? «Super, wenigstens nicht so ein langweiliges Interview in einem Café, wo du als Reporter dann mit ungelenken Formulierungen beschreiben musst, wie der Dude in seinem Flat White rührt», sagt Takis. Beeindruckt hat ihn die Ruhe, die Schuch ausstrahlt. «In meiner Erfahrung haben Schauspieler oft einen an der Waffel und sind berauscht von sich selbst.» Schuch aber wirkte, «als würde er sich im Zuhören wohler fühlen als im Sprechen über sich selbst». Genug erzählt für den Text hat er trotzdem.
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Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: «Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfen ein, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen.»
Cartoon des Tages: Dein Freund und Helfer
Und heute Abend?
Vielleicht durchs Dunkle streifen? Mehr als 50-mal ist der Journalist und Buchautor Dirk Liesemer durch die Nacht gewandert. Ich kenne ihn von der Journalistenschule, deshalb überrascht es mich nicht, dass er auch ein Buch daraus gemacht hat. Wenn Sie nicht selbst losziehen wollen, lesen Sie es. Darin verrät Dirk Liesemer, warum eine Taschenlampe furchterregender sein kann als ein Wildschwein. Und worauf Anfänger achten sollten. Oder Sie machen beides, erst nachtwandern, dann lesen. Aber keinesfalls beides gleichzeitig.
In diesem Sinne: erst Abendbrot, dann gute Nacht.
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Oliver Trenkamp
Hier können Sie die «Lage am Abend» per E-Mail bestellen.
Source: spiegel.de
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