пятница, 10 июля 2020 г.

Daniel Kehlmann zu Rassismus-Protesten: «Wir erleben gerade eine kulturelle Revolution»

SPIEGEL: Herr Kehlmann, im US-amerikanischen «Harper’s Magazine» treten mehr als 150 Intellektuelle für Debattenfreiheit ein. Auch Sie. Ist der «Lebensnerv der liberalen Gesellschaft» wirklich in Gefahr, wie es dort heißt, der «freie Austausch von Informationen und Ideen»?

Kehlmann: Wir erleben gerade eine kulturelle Revolution. Diese ist eigentlich sehr zu begrüßen, aber wie bei jeder Revolution gibt es Auswüchse, und da ist Widerspruch nötig. Der Brief entstammt einem amerikanischen Kontext und trifft nur bedingt auf Europa zu, wo die Debatten weiterhin viel ausgewogener ablaufen. In letzter Zeit wurden von großen amerikanischen Institutionen immer wieder Menschen gekündigt beziehungsweise Artikel oder Bücher zurückgezogen, nur weil sie Ärger in sozialen Medien verursacht hatten. Wenn man von diesen Fällen nichts weiß, kann man den Brief nicht verstehen.

SPIEGEL: Im Zusammenhang mit «Cancel Culture» ist immer wieder von Sprech- oder gar Denkverboten die Rede.

Kehlmann: So würde ich das nicht formulieren. Die Situation in den USA hat nichts mit Denkverboten zu tun, eher mit übervorsichtiger Firmenpolitik. Es war zum Beispiel völlig richtig, sich darüber zu ärgern, als die «New York Times» den widerlichen Kommentar des republikanischen Senators Tom Cotton abgedruckt hat, in dem dieser sich dafür aussprach, das Militär gegen Demonstranten einzusetzen. Aber musste man wirklich den zuständigen Redakteur kündigen? Er war eben der Meinung, dass es für die Leser relevant wäre zu erfahren, was die Trump-Seite denkt und vorhat. Ich hätte den Artikel nicht gedruckt, aber den Redakteur allein deshalb hinauszuwerfen ist eine gefährliche Reaktion, denn die nächste Kündigung erfolgt dann wiederum noch schneller, auf eine noch kleinere Meinungsverfehlung.

Source: spiegel.de

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