Das Woolworth Building hat schon einiges hinter sich. Der Wolkenkratzer von 1913, damals der höchste der Welt, diente als Konzernzentrale, Touristenziel und Luxuswohnhaus. Er überstand Weltkriege, Wirtschaftskrisen und am 11. September 2001 die Terroranschläge aufs nahe World Trade Center.
Und dann — die Coronakrise. Als New York City im März zu einem Epizentrum der globalen Pandemie wurde und sich verbunkerte, verwaiste auch das Woolworth Building mit seinen Dutzenden Büros und Kanzleien. Nur ein Pförtner hielt tagsüber die Stellung.
Jetzt kehren die ersten Angestellten zurück. «Bitte tragen Sie einen Gesichtsschutz», lautet die Bitte auf einem Schild am Eingang. In der Mamorlobby hängen Handreinigungsspender, in die Aufzüge darf immer nur einer. Der Pförtner grüßt hinter einer Plexiglasscheibe, auch er trägt Maske.
Vor drei Monaten wurde die 8,5-Millionen-Metropole zur Geisterstadt. Nun erwacht sie wieder. Als letzte, da am schwersten betroffene Region der Vereinigten Staaten lockert New York City den Lockdown. Langsam und behutsam: Seit Montag dürfen Firmen, Geschäfte und Barbershops unter Auflagen öffnen und rund 5000 Restaurants Gäste bewirten, wenn auch nur draußen.
Hundert Tage Lockdown: Es war eine knallharte Corona-Strategie, nachdem frühe Fehler die Stadt zum Totenhaus der Pandemie gemacht hatten. Anders als viele US-Südstaaten, die ihre ideologische Antipathie gegen die Coronaregeln nun bitter bereuen, hielt die New Yorker stur durch — zumindest bis zu den jüngsten Anti-Rassismus-Protesten, die Zehntausende nach wochenlanger Zwangspause wieder (maskiert) in die Straßen trieb.
So hat sich das Blatt dramatisch gewendet. Während Florida, Texas und Arizona plötzlich den stärksten Anstieg an Fällen sehen, wird New York City zum nationalen Vorreiter — und zum Vorbild: Am Donnerstag zählte die amtliche Statistik mit 18 neuen Corona-Todesopfern so wenige wie seit März nicht. Zum Höhepunkt der Pandemie waren es 1221 an einem Tag.
Der Schock dieser üblen Wochen sitzt tief. Bisher starben nahezu 23.000 New Yorker an Covid-19, das sind fast achtmal so viele Tote wie am 11. September 2001. Die Stadt danach ist eine andere, als sie mal war — und so wird sie nie wieder sein.
Oft schon hat New York sich neu erfunden. Die Stadt meisterte Epidemien, industrielle Revolutionen und Pleitejahre, sie überstand Unruhen, Attentate, Sturmfluten, Börsencrashs, Gentrifizierung, Mietwucher, während Generationen kamen und gingen.
«Die New Yorker sind unglaublich widerstandsfähig»
Diesmal ist das nicht so einfach. Vor Corona prägte ein enges Miteinander den einzigartigen Charakter. Theater, Museen, Shopping, Restaurants, die U-Bahn, das pralle Straßenleben und Gedrängel — das alles machte New York erst zu New York, für Fremde wie Einheimische.
«So eine Krise zu überwinden wird Zeit brauchen und nicht leicht sein», sagt James Patchett, Präsident des New Yorker Immobilienverbands REBNY. «Aber die New Yorker sind unglaublich widerstandsfähig.»
Wird sich New York nach Corona in eine ganz normale US-Großstadt verwandeln, wie Cleveland? Und ist es dann noch New York?
«Ich weiß nicht, ob wir das alte New York jemals wiedersehen»
Das Leben kehrt jedenfalls nur mühsam zurück. Etwa in Lower Manhattan: Die Bauarbeiten der neuen Kulturhalle am World Trade Center laufen wieder, doch das 9/11-Mahnmal — an dessen Brunnen die Namen von fast 3000 Terroropfern eingraviert sind — ist weiter abgesperrt und leer, es soll jetzt am 4. Juli, dem US-Unabhängigkeitstag, halbtägig öffnen. Verlassen bliebt gegenüber auch der Oculus, die futuristische Shoppingmall. Ein Wegstück entfernt liegt selbst die Wall Street noch brach, obwohl das Handelsparkett der Stock Exchange wieder beschränkt geöffnet hat.
Fast 300.000 Menschen tasten sich seit dieser Woche zurück in ihre desinfizierten Büros. Trotzdem wirken weite Strecken der Stadt desolat, Läden sind verdunkelt, Fenster verbarrikadiert. Vieles, was man kannte, kommt wohl nicht mehr zurück: ikonische, doch nun bankrotte Kaufhäuser wie Nieman Marcus an der Fifth Avenue. Familiensupermärkte, Literaturcafés, viele kleine Latino-Bodegas an den Straßenecken. Das ganze Stadtbild hat sich verändert, eine Einladung an Spekulanten und Monopolisten.
Zehntausenden Kleinunternehmen droht das dauerhafte Aus — Restaurants, Buchläden, Handwerksbetriebe, Marktingfirmen. «Ich glaube nicht, dass wir das alte New York in den nächsten Jahren wiedersehen», sagte Gregg Bishop, der zuständige Beauftragte der Stadt, der «New York Times». «Ich weiß nicht, ob wir es jemals wiedersehen.»
Fast zwei Drittel aller Restaurants können nur überleben, wenn sie zu 70 Prozent ausgelastet sind. Vorerst ist das unmöglich. Die minimale Open-Air-Option klappt nur im Sommer und tagsüber, nachts stottert der Gastro-Puls der Stadt. «Hat New York noch Platz für mich?», fragt selbst Starköchin Gabrielle Hamilton, die ihr Restaurant «Prune» nach 20 Jahren schloss — und nicht glaubt, dass sich eine Neueröffnung noch rechnet.
Aufgegeben haben historische Etablissements wie der von Barry Manilow besungene Club «Copacabana», wo Harry Belafonte und Sammy Davis Jr. auftraten. Oder die irische Kneipe «Coogan’s» im Norden Manhattans, eine Institution seit 1985. Oder, auch das, ein 16.000-Quadratmeter-McDonald’s an der 42nd Street, einst der größte der Welt.
Mehr als 66 Millionen Touristen besuchten New York im vergangenen Jahr. Dieser finanzielle Zustrom bricht auf lange Sicht ein. Museen sind bis zum Spätsommer geschlossen. Die Metropolitan Opera spielt frühestens an Silvester wieder. Und in 41 Broadway-Theatern und Hunderten Off-Broadway-Bühnen geht der nächste Vorhang wahrscheinlich erst im März auf.
Selbst der New York Marathon, der im November 50. Geburtstag gefeiert hätte, wurde abgesagt — aus Sorge um die 50.000 Läufer, 10.000 Helfer und eine Million Zuschauer.
New York lebt noch, hängt jedoch am Tropf. Der Einnahmeverlust wird zum Haushaltsloch, rund 9,5 Milliarden Dollar könnten der Stadt bis nächstes Jahr fehlen und 22.000 Beamte deshalb entlassen werden.»Uns gehen die Alternativen aus», seufzt Bürgermeister Bill de Blasio.
New Yorks Arbeitslosenquote dürfte selbst nächstes Jahr noch bei fast elf Prozent liegen, fast dreimal so hoch wie 2019. «Die langfristige Attraktivität von New York City als Ort zum Leben und Geschäftemachen ist eine offene Frage», resümiert die Finanzverwaltung.
«Die Stadt der Streber und Überlebenden, der Immigranten und Ideen»
Die Stadt der Ungleichheit könnte damit noch ungleicher werden. Die höchsten Todesraten verzeichneten die Außenviertel der Armen und der Minderheiten — der essential workers, die ausharren mussten und nicht fliehen konnten. Zermürbt von Trauer, Trauma und Hoffnungslosigkeit, haben die Leute dort jetzt erst recht die schlechteste Ausgangslage aller.
Andere haben die Nase voll. Fast eine halbe Million New Yorker sollen das Weite gesucht haben, meist Wohlhabendere, die über entsprechende Mittel verfügen. Wie viele wann zurückkehren oder von anderen ersetzt werden — niemand weiß es.
«Ist die Stadt es noch wert?», fragt die «New York Times». «Woanders lockt ein leichteres, sichereres und billigeres Leben.» Selbst die «Washington Post» spottet aus sicherer Entfernung: «New York City ist ein Schatten seiner selbst.»
Manche sehen aber gerade darin einen neuen Anfang. «Das neue New York wird besser sein», hofft die Autorin Molly Jong-Fast, Tochter der Feministin Erica Jong («Angst vorm Fliegen»). «Diese Pandemie hat mich erneut erinnert, warum ich New York liebe», schreibt auch der Tech-Unternehmer Justin Hendrix in der «Daily News». «Die Stadt der Streber und Überlebenden, der Immigranten und Ideen.»
Sein Fazit: «Ich bleibe.»
Source: spiegel.de
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